15.01.19

E-Justice

Thesen des BDS zum elektronischen Rechtsverkehr (ERV)

Aus (sozial)richterlicher Sicht sind im Bereich des ERV derzeit im Wesentlichen die Problemkreise IT-Organisation und Gestaltung der elektronischen Akte relevant.

I) IT-Organisation

Jedenfalls in Hessen, Bayern und NRW soll die Abwicklung des ERV über Server erfolgen, die bei der Exekutive angesiedelt sind (z.B. Bayern: Rechenzentren des Bayerischen Landesamts für Steuern, NRW: zentraler IT-Dienstleister beim OLG Köln unter <Mit- >Kontrolle des JM).

Hieraus ergeben sich verschiedene Probleme und Gefahren, die nicht auf den Bereich der Sozialgerichtsbarkeit beschränkt sind.

  • Für die Fachgerichtsbarkeiten: Die Akten werden im Grunde von der Exekutive, die in den Verfahren vor den Fachgerichten kontrolliert werden soll, verwahrt. Hierdurch gerät die Judikative in ein Abhängigkeitsverhältnis zur Exekutive.

  • Administratoren mit dem sog. Masterpasswort, die ggf. noch nicht einmal der Justiz(Verwaltung) angehören müssen, ist es durch wenige Befehle und innerhalb kürzester Zeit möglich, Dokumente einzusehen, Informationen über deren Entstehungsprozess aufzuzeichnen sowie Dokumente zu kopieren und an Dritte weiterzuleiten.

  • Durch die Möglichkeit der systematischen Suche nach Dateien (mit Az. o.ä.) könnten auch Voten oder andere dem Beratungsgeheimnis nach § 43 DRiG unterliegende Schriftstücke eingesehen werden.

  • Anhand der sog. loq-Dateien sind Informationen über die Benutzung des EDV-Netzes (Zeiten der An- und Abmeldung) sowie aufgrund der Meta-Informationen von Dokumentdateien (Person des Erstellers und Bearbeitungsdaten) solche über die Zeiten der Bearbeitung eines bestimmten Verfahrens mit geringem Aufwand zu ermitteln.

Wie diesen Problemen und Gefahren effektiv begegnet werden kann, ist derzeit noch offen.

Eine Überführung der IT-Organisation in den Bereich der Judikative wäre zwar denkbar und wünschenswert. Auch hier stellen sich aber Probleme mit Zugriffsrechten, insbesondere der Dienstaufsicht. Zudem scheint es keine grundsätzlichen (verfassungsrechtlichen) Bedenken gegen eine IT-Organisation unter der Regie der Exekutive zu geben (vgl. dazu BVerfG, Beschluss vom 17.01.2013 – 2 BvR 2576/11; vorgehend BGH, Urteil vom 06.10.2011 – RiZ(R) 7/10; Hessischer Dienstgerichtshof für Richter, Urteil vom 20.04.2010 – DGH 4/08; Hessisches Dienstgericht für Richter, Urteil vom 02.06.2008 – 1 DG 5/2007

  • In NRW ist geplant, dass die Gerichte und Staatsanwaltschaften (weiterhin) die vollständige Herrschaft über die Zugriffsberechtigung, Verwendung sowie Sicherung und Pflege ihrer Daten behalten. Hinsichtlich der Einzelheiten soll ein umfassendes Sicherheitskonzept erarbeitet werden.

  • Nach Einschätzung des bayerischen Richtervereins e.V. können die Gefahren in Bayern nicht durch eine Dienstvereinbarung gebannt werden, weil das dortige Richter– bzw. Personalvertretungsgesetz Gefährdungen der richterlichen Unabhängigkeit nicht erfasst. Deswegen wird der bayerische Richterverein e.V. voraussichtlich eine gesetzliche Regelung mit folgenden Mindeststandards fordern:

    • Fachaufsicht des Justizministers, soweit ein zentraler Dienstleister Aufgaben für den Geschäftsbereich des Justizministeriums wahrnimmt. Der Justizminister muss über eine ausreichende Einwirkungs- und Gestaltungsmacht verfügen, um selbst die Schutz- und Kontrollstandards für den Datenschutz und die Datensicherheit zu bestimmen, die in Bezug auf richterliche Dokumente und sonstige Daten, die unter die richterliche Unabhängigkeit fallen, geboten sind. Fachaufsicht hinsichtlich der Verfahrensdaten durch die Gerichte und Staatsanwaltschaften.

    • Über die Fachaufsicht hinaus muss die Leitung und die Aufsicht über die Tätigkeit zentraler Dienstleister so ausgestaltet sein, dass die von den Richtern oder in ihrem Auftrag von Bediensteten erstellten Dokumente gegen unbefugte Einsicht und Weitergabe ausreichend geschützt sind. Dies umfasst u.a.: genaue Festlegung der Personen, die das Masterpasswort kennen, einschließlich deren Befugnisse. Festlegung verbindlicher konkreter Regeln über den Umgang mit richterlichen Dokumenten und Metadaten, was den Zugriff, die Speicherung und ggf. die Weitergabe angeht.

 

II) Gestaltung der elektronischen Akte

Sowohl der richterliche Arbeitsplatz als auch die richterliche Arbeitsweise wird sich durch die Einführung des ERV massiv verändern. Wie genau der Arbeitsplatz im Ergebnis aussehen wird, kann man jetzt noch nicht absehen. Das Arbeitsumfeld wird jedoch entscheidend von der Gestaltung der elektronischen Gerichtsakte in den einzelnen Bundesländern (dazu 1.) und insbesondere in der Sozialgerichtsbarkeit von der Gestaltung bzw. Einbindung der teilweise bereits heute ausschließlich elektronisch geführten Verwaltungsvorgänge abhängen (dazu 2.).

1. Mit Blick auf die elektronische Gerichtsakte ist aus (sozial)richterlicher Sicht insbesondere auf folgende Punkte zu achten:

  • Die elektronische Gerichtsakte soll die Arbeit möglichst erleichtern. Sie muss daher richterspezifische Funktionen anbieten, wie etwa das einfache Anbringen von anwenderbezogenen Lesezeichen, Markierungen und Anmerkungen einschließlich der Möglichkeit, einen „digitalen Aktenauszug“ zu fertigen.

  • Die elektronische Gerichtsakte ist so zu konzipieren, dass sie der richterlichen Arbeitsweise gerecht wird und diese unterstützt. Sie darf dem Richter / der Richterin keinen festen Arbeitstakt im Sinne eines work-flows aufzwingen.

  • Ein Papierausdruck von einzelnen Aktenteilen muss möglich sein, wenn dies der Richter / die Richterin zur ordnungsgemäßen Bearbeitung für nötig hält. Die Einschätzung darüber, ob dies notwendig ist, bleibt dem einzelnen Richter / der einzelnen Richterin im Rahmen seiner/ihrer richterlichen Unabhängigkeit überlassen.

  • Die elektronische Akte muss im Gericht auch im Sitzungssaal sowie ggf. bei Orts- und Beweisaufnahmeterminen in angemessener Form (z.B. Tablet-PC, WLAN im Gericht) zur Verfügung stehen.

  • Die permanente Bildschirmarbeit stellt neue Anforderungen an die Ergonomie des Arbeitsplatzes. Hierdurch werden nicht unerhebliche Folgekosten für die Ausstattung der Arbeitsplätze (z.B. variable Schreibtische, ergonomische Schreibtischstühle, augenschonende Displays und Monitore in ausreichender Zahl und Größe u.s.w.) zu berücksichtigen sein.

  • Die sichere (d.h. verschlüsselte) Übertragung der elektronischen Akte an den häuslichen Arbeitsplatz muss sichergestellt sein.

  • Barrierefreiheit ist zu gewährleisten

  • Sofern die §§ 65 a/b SGG hierzu (noch) keine hinreichende Grundlage bieten, ist zu klären, wie folgende möglicherweise problematische Verfahrenssituationen zu bewältigen sind:

    • Kommunikation mit nicht vertretenen Klägern oder Beigeladenen (insb. Bewältigung des damit unvermeidlich verbundenen Medienbruchs)

    • Akteneinsicht (Wie wird gewährleistet, dass Beteiligte nicht in die „Handakte“ des Richters / der Richterin einsehen können? Abwicklung der Einsichtnahme in die elektronischen „Beiakten“ der Verwaltung und ggf. weiterer elektronischer „Beiakten“?)

    • Sachverständigengutachten (Pflicht des Sachverständigen, sein Gutachten in elektronischer Form zu erstellen; Abwicklung der „Aktenübersendung“ an den Sachverständigen; Gewährleistung des Datenschutzes beim Sachverständigen)

    • Schweigepflichtentbindungserklärungen (Abgabe in elektronischer Form? Einscannen der Originalerklärung mit anschließender Vernichtung? Aufbewahren in einem gesonderten Ordner?)

2. Im sozialgerichtlichen Verfahren sind in aller Regel Verwaltungsvorgänge mindestens eines Sozialleistungsträgers beizuziehen. Oft sind zusätzlich noch weitere Verwaltungsvorgänge auszuwerten (z.B. Betreuungsakten, Ausländerakten, Akten vorangegangener oder paralleler Gerichtsverfahren). Daraus ergeben sich (zusätzlich zu den Ausführungen oben unter 1.) besondere Anforderungen an die Gestaltung der elektronischen Akte und des richterlichen Arbeitsplatzes:

  • Es muss eine höchst mögliche Kompatibilität der Verwaltungsvorgänge sämtlicher Leistungsträger und ggf. auch von Gerichtsakten sowie Ermittlungsakten der Staatsanwaltschaft (auch länderübergreifend) mit den jeweiligen elektronischen Gerichtsakten in den Ländern sichergestellt sein.

  • Die Kompatibilität ist auf verschiedenen Niveaus denkbar.

    • Am umfassendsten wäre eine Zugriffsmöglichkeit auf die Vorgänge direkt über die Server bei den jeweiligen Verwaltungsträgern selbst.

    • Unabhängig davon, ob alle Verwaltungsträger solche Zugriffe gestatten würden, stellt sich dabei die Frage, ob dies für die richterliche Arbeit letztlich wünschenswert wäre; denn der einzelne Richter bzw. die einzelne Richterin müsste sich so zwangsläufig zunächst Kenntnisse des jeweils von der entsprechenden Behörde verwendeten (Dokumentenmanagement) Systems aneignen.

    • Nicht viel anders wäre die Situation, wenn die Behörden ihre elektronischen Akten an die Sozialgerichte übermitteln würden und dort die jeweilige Software zum Lesen der Akten zur Verfügung stünde.

    • Denkbar und wünschenswert wäre (als Mindeststandard) ein einheitliches Austauschformat für elektronische Verwaltungsvorgänge, so dass die elektronischen Verwaltungsakten schon in geeigneter Form – möglichst in gewisser Weise aufbereitet bzw. strukturiert – bei den Gerichten ankommen. Hier stellt sich allerdings die Frage, ob die Verwaltungsträger überhaupt verpflichtet werden können, ihre Vorgänge in einem bestimmten Format zu liefern. Ggf. müsste überlegt werden, ob man sich insoweit für eine gesetzliche Regelung – in welcher Form auch immer – stark macht (§ 65 b Abs. 1 S. 3, Abs. 2 SGG <?>).

    • Keinesfalls darf es dazu kommen, dass die Behörden nur weitgehend ungeordnete pdf-Dateien liefern. Falls eine Aufbereitung der elektronischen Verwaltungsvorgänge nicht zu umgehen sein sollte, ist sicherzustellen, dass ggf. erforderliche Arbeiten zur Vorstrukturierung nicht auf das richterliche Personal abgewälzt werden.

  • Unabhängig davon, in welcher Form die Verwaltungsvorgänge in das Verfahren eingebunden werden, muss sichergestellt sein, dass die Akten vollständig (d.h. in dem Umfang, wie sie der zur Überprüfung gestellten Verwaltungsentscheidung zu Grunde gelegen haben) und fehlerfrei übermittelt werden.

  • Die Notwendigkeit, ggf. mehrere Akten parallel zu lesen und daneben ggf. noch eine Verfügung zu erstellen, muss rechtzeitig bei der Gestaltung der elektronischen Gerichtsakte und der Hardwareausstattung Berücksichtigung finden. Jedenfalls in NRW basieren die Überlegungen für die (Ergonomie) der elektronischen Akte bislang nur auf dem durchschnittlichen Umfang einer Akte des Familiengerichts (ca. 70 Seiten).

  • Es gibt bereits eine Vielzahl von Verwaltungsträgern im sozialgerichtlichen Verfahren, die ihre Akten nur noch elektronisch führen. Dies sind insbesondere: eine Vielzahl von BG ́s (in Baden-Württemberg u.a. die BG Holz und die BG Metall, in Rheinland- Pfalz alle), die Bundesagentur für Arbeit in Baden-Württemberg, die DRV Rheinland- Pfalz, die überörtlichen Träger der Sozialhilfe in NRW (Landschaftsverband Rheinland und Landschaftsverband Westfalen-Lippe).

 

Essen, 07. November 2013

Thomas Ottersbach