Nr. 03/24

Stellungnahme zum Referentenentwurf eines Gesetzes zur Ausgestaltung der Inklusiven Kinder- und Jugendhilfe

Der BDS beschränkt sich in seinen Stellungnahmen zu Gesetzentwürfen vorrangig auf verfahrensrechtliche Fragestellungen und die Auswirkungen auf die richterliche Tätigkeit. Die in dem Referentenentwurf vorgesehene Ausgestaltung des Rechtsweges sollte dringend überdacht werden. Sie ist in der geplanten Form nicht praktikabel und widerspricht dem an einer effektiven Durchsetzung der sozialen Rechte orientierten Grundgedanken eines modernen Prozessrechts.

 

§ 51 Abs. 1 Nr. 6b SGG-E sieht die Zuständigkeit der Sozialgerichtsbarkeit „in Angelegenheiten der Kinder- und Jugendhilfe, soweit sie Leistungen der Eingliederungshilfe betreffen“ vor. Die darin angelegt Rechtswegspaltung ist weder in der Sache selbst angelegt, noch praktikabel. Das beste Recht nützt wenig ohne effektive Durchsetzungsmöglichkeit. Die Zuständigkeit für Verfahren nach dem 2. Kapitel des SGB VIII sollte im Interesse der rechtsuchenden Bürgerinnen und Bürger daher insgesamt der Sozialgerichtsbarkeit zugewiesen werden.

 

  1. Ein modernes Prozessrecht knüpft am materiellen Recht an, das vor Gericht durchgesetzt werden soll, nicht an sachfremden Erwägungen, wie etwa der Steuer- oder Beitragsfinanzierung der Leistung. Bei der Finanzierungsart handelt es sich um ein überholtes Kriterium für die Zuweisung gerichtlicher Zuständigkeiten für die gewährte Leistung. Zu Recht hat der Gesetzgeber dementsprechend in den letzten Jahren noch bestehende Unschärfen im Prozessrecht größtenteils beseitigt, in dem er die allermeisten Sozialleistungen – unabhängig von der Finanzierungsart – inzwischen dem Zuständigkeitsbereich der Sozialgerichte zugewiesen hat. So erfolgte etwa zum 1.1.2005 die Zuweisung von SGB II und SGB XII und damit auch die Eingliederungshilfe für erwachsene Menschen mit Behinderungen sowie Kindern und Jugendlichen mit körperlicher und geistiger Behinderung an die Sozialgerichtsbarkeit. Mit der Aufgabe der Kriegsopferfürsorge durch Einführung des SGB XIV ist zuletzt eine weitere sozialrechtliche Zuständigkeit der Verwaltungsgerichte entfallen. Diesen Weg sollte der Gesetzgeber konsequent fortsetzen.Die in der Begründung des Gesetzentwurfs an mehreren Stellen zu Recht betonte Notwendigkeit der Zusammenführung der Zuständigkeiten der Leistungen für Kinder und Jugendliche mit Behinderungen unter dem Dach der Kinder- und Jugendhilfe im Sinne eines „inklusiven Lösung“ (etwa S. 1, 36) sollte auch im Prozessrecht konsequent umgesetzt werden. Das begrüßenswerte Ziel einer ganzheitlichen individuellen Förderung aus einer Hand und aus einem System würde hingegen konterkariert, wenn es im Streitfall im Hinblick auf einzelne Leistungsbestandteile zu einer Rechtswegaufspaltung käme. Das Leistungsspektrum des SGB VIII hat die engsten Zusammenhänge mit dem Zuständigkeitsbereich der Sozialgerichtsbarkeit, insbesondere für die Eingliederungshilfe sowie die Rehabilitations- und Teilhabeleistungen nach dem SGB IX, aber auch für die zahlreichen anderen Gebieten, die sich mit den Auswirkungen von Krankheit und Behinderung befassen, wie die gesetzliche Kranken-, Pflege, Renten- und Unfallversicherung. Als sinnvolles Ganzes sollten Streitigkeiten nach dem 2. Kapitel des SGB VIII daher insgesamt der Sozialgerichtsbarkeit zugewiesen werden.

  2. Eine Rechtswegspaltung hätte für die Effektivität des Rechtsschutzes hingegen gravierende Folgen. Es käme nicht nur zu Abgrenzungsproblemen (z. B. bei Entwicklungsverzögerungen), sondern etwa auch bei Erreichen der Volljährigkeit bzw. der Vollendung des 27. Lebensjahres zu einem Wechsel der gerichtlichen Zuständigkeit, obwohl das bloße Erreichen bestimmter Altersgrenzen an den Eingliederungsbedarfen meist nichts ändert. Im Interesse sowohl der Betroffenen, also auch der Leistungsträger sollte ein einheitlicher Rechtsweg vorgesehen werden, damit Fragen der Eingliederungshilfe über alle Altersgruppen hinweg bundeseinheitlich geklärt werden können.
    Die angedachte Rechtswegspaltung erscheint auch bedenklich im Hinblick auf die Vorgaben des Übereinkommens der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-Behindertenrechtskonvention – UN-BRK). Nach Artikel 12 UN-BRK treffen die Vertragsstaaten geeignete Maßnahmen, um Menschen mit Behinderungen Zugang zu der Unterstützung zu verschaffen, die sie bei der Ausübung ihrer Rechts- und Handlungsfähigkeit gegebenenfalls benötigen. Nach Artikel 13 Abs. 1 UN-BRK gewährleisten sie Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt mit anderen wirksamen Zugang zur Justiz, unter anderem durch verfahrensbezogene und altersgemäße Vorkehrungen, um ihre wirksame unmittelbare und mittelbare Teilnahme zu erleichtern. Damit dürfte ein Wechsel des Rechtswegs mit dem Erwachsenwerden nur schwer vereinbar sein.

  3. Das Verfahrensrecht des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) ist speziell auf das Recht der Sozialleistungen zugeschnitten und berücksichtigt im Besonderen die Bedürfnisse von Empfängern und Erbringer von Sozialleistungen. Es enthält zahlreiche bürgerfreundliche Ausgestaltungen die die anderen öffentlich-rechtlichen Prozessordnungen in dieser Form nicht kennen, wie etwa die Einbeziehung von Folgebescheiden (§ 96 Abs. 1 SGG), den Antrag auf verpflichtende Anhörung eines medizinischen Gutachters des Vertrauens nach § 109 SGG, die Anwaltsfreiheit in beiden Tatsacheninstanzen (§ 73 Abs. 1 SGG) und einen einfachen Zugang zur Berufungsinstanz (§§ 143 ff SGG). Außerdem besteht hier die Möglichkeit, andere Leistungsträger ohne Durchführung eines weiteren Verwaltungsverfahrens zu verurteilen (§ 75 Abs. 5 SGG). Diese Besonderheiten ermöglichen es den Betroffenen, in hochsensiblen Lebenbereichen „Rechtsschutz gegen eine hoch spezialisierte Verwaltung zu erhalten“ (vgl. Tabbara, NZS 2008, 8, 9). Den besonderen Herausforderungen leistungserbringerrechtlicher Streitigkeiten wird das SGG durch erstinstanzliche Zuständigkeiten des LSG gerecht, etwa für Klagen gegen Schiedsstellenentscheidungen (§ 29 Abs. 2 Nr. 1 SGG).

  4. Die Sozialgerichtsbarkeit hat auf dem Gebiet des Rechts der Sozialleistungen eine langjährige Expertise. Neben den (steuerfinanzierten) Sozialleistungen der Sozialhilfe, der Grundsicherung für Arbeitsuchende (jetzt: Bürgergeld) und der Eingliederungshilfe für erwachsene Menschen mit Behinderungen sowie Kinder und Jugendliche mit körperlicher und geistiger Behinderung, entscheidet die Sozialgerichtsbarkeit über zahlreiche weitere (beitragsfinanzierte) Sozialleistungen im Bereich der gesetzlichen Kranken-, Renten- und Unfallversicherung, der Feststellung eines Grades der Behinderung nach dem SGB IX und den Entschädigungsleistungen nach dem neuen SGB XIV. In all diesen Rechtsgebieten befasst sich die Sozialgerichtsbarkeit intensiv mit den Auswirkungen von Krankheiten und Behinderungen und es kommt hier regelmäßig zu Überlappungen, etwa bei der Hilfsmittelversorgung zwischen der Eingliederungshilfe und der gesetzlichen Krankenversicherung. Es besteht daher kein sachlicher Grund, einen Teil der Leistungen nach dem 2. Kapitel des SGB VIII aus diesem System auszugliedern. Im Gegenteil würde dies regelmäßig zu Abgrenzungsschwierigkeiten führen und widerspräche dem dem 2. Kapitel des SGB VIII zugrundeliegenden Gedanken einer inklusiven Lösung.

 

Prof. Dr. Steffen Roller

Direktor des Sozialgerichts

Vorsitzender des BDS

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