Nr. 2/22

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Stellungnahme des Bundes Deutscher Sozialrichter (BDS) zu den die Sozialgerichtsbarkeit betreffenden Regelungen im Referentenentwurf eines Gesetzes zur Förderung des Einsatzes von Videokonferenztechnik in der Zivilgerichtsbarkeit und den Fachgerichtsbarkeiten (Stand: 21.11.2022)

Der BDS begrüßt ausdrücklich, dass der Referentenentwurf die eigenständige Regelung zur Videoverhandlung in § 110a SGG dem Grunde nach beibehält und dadurch den Besonderheiten des sozialgerichtlichen Verfahrens angemessen Rechnung trägt. Zu Recht verweist die Begründung des Referentenentwurfs auf die besondere Rolle und Bedeutung der mündlichen Verhandlung in Bezug auf die sozialen Rechte der Bürgerinnen und Bürger. Der RefE greift damit Überlegungen aus unserer Stellungnahme zu einer Änderung des § 110a SGG (Videokonferenz) vom 12.8.2022 auf (vgl. www.bunddeutschersozialrichter.de/positionen/stellungnahmen/stellungnahme/news/nr-1-22).

Die Durchführung von Videoverhandlungen hat sich im sozialgerichtlichen Verfahren seit der Corona-Pandemie weitgehend etabliert und bewährt. Die Richterinnen und Richter machen davon in geeigneten Fällen (soweit die hierfür notwendige Ausstattung in ausreichendem Umfang vorhanden ist) umfangreich Gebrauch. Hierbei ist bereits nach geltendem Recht die Ermessensentscheidung der Gerichte über die Durchführung einer Videoverhandlung zu begründen und justiziabel (vgl. z. B. BSG vom 29. März 2022, B 8 SO 1/22 BH, Rn. 8). Es ist aber durchaus sachgerecht, die gerichtliche Entscheidung über Anträge auf Videoverhandlungen auf eine ausdrückliche gesetzliche Grundlage zu stellen, wie dies der RefE in § 110a Abs. 2 SGG-E auch vorsieht.

Nur in einzelnen Punkten sollte der RefE allerdings nachgeschärft werden, um der Struktur des sozialgerichtlichen Verfahrens vollständig gerecht zu werden. Hierzu im Einzelnen:

 

Zu Artikel 1 (Änderungen des Gerichtsverfassungsgesetzes)

§ 185 Abs. 1a GVG-E

Das GVG findet im Bereich des sozialgerichtlichen Verfahrens Anwendung, wenn nicht grundsätzliche Unterschiede der Verfahrensarten dies ausschließen (§ 202 Satz 1 SGG). Bei auch in der Sozialgerichtsbarkeit regelmäßig zum Einsatz kommenden Dolmetschern ist es nachvollziehbar, aus Gründen der Kostenersparnis und Beschleunigung des Verfahrens eine Kompetenz zur Anordnung der Teilnahme per Videokonferenz vorzusehen. Es ist auch richtig, die Zuständigkeit hierfür dem Vorsitzenden zuzuweisen, der auch in Spruchkörpern mit mehreren Berufsrichtern die Ladung der Verfahrensbeteiligten zur mündlichen Verhandlung vornimmt (§ 153 Abs. 1 bzw. § 165 Satz 1 jeweils i.V.m. § 110 Abs. 1 Satz 1 SGG). 

Bei Erörterungsterminen, bei denen ebenfalls Dolmetscher zum Einsatz kommen, ist diese Aufgabe zumindest beim Landessozialgericht regelmäßig auf den Berichterstatter übertragen (§ 155 Abs. 1 i.V.m. § 106 Abs. 3 Nr. 7 SGG). Für diese Fälle sollte eine Ausnahmeregelung aufgenommen werden. So könnte etwa § 185 Abs. 1a GVG-E in § 155 Abs. 2 Satz 1 SGG aufgenommen werden. 

 

§ 193 Abs. 1 GVG-E, § 61 Abs. 2 SGG-E

§ 61 Abs. 2 SGG-E nimmt die Sozialgerichte von Beratungen und Abstimmungen der Richter durch Videokonferenz (§ 193 Abs. 1 GVG-E) aus. Begründet wird dies überzeugend mit „der herausragenden Bedeutung der unmittelbaren Mitwirkung der ehrenamtlichen Richterinnen und Richter an der Verhandlung“ (Einzelbegründung zu § 61 Abs. 2 SGG-E). 

Allerdings trägt dieser Gesichtspunkt nicht, wenn das Gericht im Einverständnis mit den Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheidet (§ 124 Abs. 2 SGG). Zwar werden Verfahren ohne mündliche Verhandlung aus Praktikabilitätsgründen üblicherweise anlässlich des Sitzungstages des Spruchkörpers entschieden. Dies könnte sich mit der Möglichkeit, ohne mündliche Verhandlung im Wege einer Videokonferenz mit den ehrenamtlichen Richtern zu entscheiden, jedoch ändern. Damit wäre ein effizienter Weg eröffnet, in geeigneten Fällen einfacher und schneller zu Entscheidungen ohne mündliche Verhandlung zu gelangen.

Wir schlagen daher vor, § 61 Abs. 2 SGG-E wie folgt zu fassen: 

§ 193 Absatz 1 des Gerichtsverfassungsgesetzes findet nur in den Fällen des § 124 Absatz 2 Anwendung.“

 

Zu Artikel 3 (Änderungen der Zivilprozessordnung)

§ 117 Abs. 4 ZPO-E

Zusätzlich zur Aufnahme der Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse zu Protokoll der Geschäftsstelle sollte dies auch für eine Erklärung zu Protokoll des Vorsitzenden in der mündlichen Verhandlung ermöglicht werden. Es kommt vor, dass Beteiligte die Übersendung des Formulars bis zum Zeitpunkt einer Verhandlung versäumen, die Voraussetzungen aber offensichtlich vorliegen. In der Sitzung könnte hier der Beschluss über die Prozesskostenhilfe an sich ergehen, wenn das Formular vorläge. Die Erklärung zu Protokoll des Vorsitzenden würde dies vermeiden. 

 

§ 118 Abs. 1 Satz 6 ZPO-E; § 73a Abs. 1 SGG-E

Die Vorschrift des § 118 Abs. 1 Satz 6 ZPO-E mit dem Verweis auf § 128a SGG (Erörterungstermin zu den Voraussetzungen der PKH per Videoverhandlung) im sozialgerichtlichen Verfahren nicht anzuwenden (so § 73a Abs. 1 SGG-E), ist sachgerecht. Sollte hierfür Bedarf bestehen, kann dies in einem Erörterungstermin nach § 110a Abs. 6 SGG erfolgen.

 

§ 129a Abs. 2 ZPO-E; § 202 Satz 1 SGG-E

Gegen die Einrichtung einer „virtuellen“ Rechtsantragsstelle bei den Sozialgerichten bestehen keine durchgreifenden Bedenken. Da ein größerer Anteil der Beteiligten nicht durch einen Prozessbevollmächtigten vertreten ist, der Weg zu Sozialgerichten in Flächenstaaten jedoch gelegentlich weit ist, wird somit ein weiterer Zugang geschaffen, damit Beteiligte ihr Rechtsbegehren unmittelbar vorbringen können.

 

§ 160a Abs. 1 ZPO-E

Die Vorschrift findet über § 202 Satz 1 SGG Anwendung auf das sozialgerichtliche Verfahren, denn grundsätzliche Unterschiede der Verfahrensarten dürften hier nicht bestehen. In der sozialgerichtlichen Praxis ist bisher kein Bedürfnis für eine Aufzeichnung von Aussagen der Zeugen, Sachverständigen und vernommenen Parteien in Ton bzw. in Ton und Bild erkennbar geworden. Hier erscheint insbesondere deswegen Zurückhaltung geboten, da die Aufzeichnung (und Aufbewahrung der Datenträger) mit erheblichem Aufwand für die Gerichte verbunden ist. Unter den Beteiligten der Sozialgerichte findet sich zudem erfahrungsgemäß ein erhöhter Teil, der die Verfahren aus sachfremden Interessen betreibt und von dem entsprechende Anträge regelmäßig zu erwarten wären. 

Daher schlagen wir vor, in § 202 SGG (als neuen Satz 2) folgenden Passus einzufügen:

§ 160a Abs. 1 Sätze 2 bis 4 der Zivilprozessordnung findet keine Anwendung.“

Will man sich über diese Bedenken hinwegsetzen, sollte der Anwendungsbereich in der Sozialgerichtsbarkeit entsprechend dem unmittelbaren Anwendungsbereich der ZPO eingeschränkt werden. Die dort vorgesehene Reglung sieht eine Anwendung nur bei Streitgegenständen mit einem Wert von über 5000 € vor. Nach der Einzelbegründung soll damit das Antragsrecht im Regelfall auf Verfahren vor den Land- und Oberlandesgerichten beschränkt werden. Für das sozialgerichtliche Verfahren ist eine solche Abgrenzung nach dem Streitgegenstand nicht sinnvoll. Denkbar wäre es aber, um der Wertung aus der Einzelbegründung zu entsprechen, das Antragsrecht auf die Verfahren ab der zweiten Instanz zu beschränken. Dem wäre Rechnung getragen, wenn in § 202 SGG (als neuer Satz 2) folgender Passus eingefügt wird:

§ 160a Abs. 1 Sätze 2 bis 4 der Prozessordnung findet auf Verfahren nach dem Ersten Teil, Zweiter Abschnitt dieses Gesetzes keine Anwendung.“

 

§ 160a Abs. 3 ZPO-E

Die Aufbewahrung vorläufiger Aufzeichnungen in Form von handschriftlicher oder elektronischer Notizen des Vorsitzenden auf der Geschäftsstelle ist bei den in der Sozialgerichtsbarkeit nicht selten länger dauernden Verfahren nicht praktikabel. Daher werden diese regelmäßig zu den Prozessakten genommen. Nach Rechtskraft oder sonstiger Beendigung des Verfahrens müssten die Akten durchgesehen und die vorläufigen Aufzeichnungen durch ein Fehlblatt ersetzt werden; das gilt auch für elektronisch geführte Gerichtsakten. Die Rechtskraft tritt teilweise erst Jahre nach Fertigung der Aufzeichnung an. Der Aufwand einer solchen Aussonderung wäre erheblich, wobei ein Nutzen für die Verfahrensbeteiligten oder das Gericht nicht erkennbar ist.

Es wird daher vorgeschlagen für die Vernichtung zumindest dieser Aufzeichnungen weiterhin eine „Kann-Regelung“ vorzusehen. Denkbar wäre es auch, zusätzlich die Vernichtung auf ausdrücklichen Antrag eines Beteiligten, der nach Abschluss des Verfahrens ergeht, vorzusehen.

 

§ 411 Abs. 3 ZPO-E

Wir begrüßen die (in Verbindung mit § 118 Abs. 1 Satz 1 SGG auch für das sozialgerichtliche Verfahren) vorgesehene Möglichkeit, die Erläuterung eines Gutachtens durch den Sachverständigen per Videokonferenz anzuordnen. Hierfür besteht gerade im sozialgerichtlichen Verfahren ein erheblicher Anwendungsbereich.

 

Zu Artikel 7 (Änderung des Sozialgerichtsgesetzes)

§ 110 Abs. 3 SGG

Der Verzicht auf die Möglichkeit der Videokonferenz als Ablehnungsgrund für eine Terminsänderung im sozialgerichtlichen Verfahren ist nachvollziehbar. Nach der Gesamtregelung des § 110a SGG sollen Videokonferenzen nicht erzwungen werden, auch nicht durch Ablehnung einer Terminsänderung.

 

§ 110a SGG-E

Wie bereits oben dargestellt, entspricht die Beigehaltung einer eigenständigen Regelung in § 110a SGG für die Sozialgerichtsbarkeit der besonderen Rolle und Bedeutung der mündlichen Verhandlung in Bezug auf die sozialen Rechte der Bürgerinnen und Bürger. 

Wir begrüßen in diesem Zusammenhang auch, dass die Einzelbegründung zu § 110a Abs. 1 SGG-E klarstellt, dass auch diejenigen Vorschriften der ZPO, die auf § 128a ZPO Bezug nehmen, nicht zur Anwendung gelangen. Das gilt insbesondere für die Vorschrift des § 284 Abs. 2 ZPO-E.

 

Absatz 2

Die Notwendigkeit der Begründung der Ablehnung einer Videokonferenz in § 110a Abs. 2 Satz 2 SGG-E entspricht bereits geltender Rechtslage (vgl. z. B. BSG vom 29. März 2022, B 8 SO 1/22 BH, Rn. 8 und die dort zitierten Entscheidung des BVerwG). Zwar ist dort nicht ausdrücklich eine Begründungspflicht bezeichnet. Allerdings lässt sich die angesprochene Ermessensentscheidung des Gerichts wohl nur überprüfen, wenn das Gericht sie begründet (wie im entschiedenen Fall ja auch geschehen). Nach allgemeinen Grundsätzen müssen Ermessensentscheidungen begründet werden, um sie auf Ermessensfehler überprüfen zu können. Denn ohne Begründung muss von einem Ermessensnichtgebrauch ausgegangen werden. Daher erscheint § 110a Abs. 2 Satz 2 SGG-E an sich entbehrlich, kann aber aus Gründen der Klarstellung beibehalten werden.

Die Gestattung der Videokonferenz für Zeugen oder Sachverständige (§ 110a Abs. 3 SGG-E) sollte nicht nur auf Antrag, sondern auch von Amts ermöglicht werden. Der für die Verfahrensbeteiligten (§ 110a Abs. 2 SGG-E) genannte Grund, dass das Gericht dadurch einen Beschleunigungseffekt herbeiführen kann, besteht dort in gleicher Weise.

 

Absatz 5

Absatz 5 regelt, dass Entscheidungen über die Durchführung der mündlichen Verhandlung als Videoverhandlung (§ 110a Abs. 2 Satz 1 SGG-E), der Vernehmung eines Zeugen oder Sachverständigen per Videokonferenz (§ 110a Abs. 3 Satz 1 SGG-E) und die Aufzeichnung der Videoverhandlung (§ 110a Abs. 4 Satz 1 SGG-E) unanfechtbar sind. Nach der Einzelbegründung sollen damit sowohl Beschlüsse, die dies gestatten, wie solche, die dies ablehnen erfasst werden. Das entspricht inhaltlich und in seiner Formulierung der bisherigen Fassung des § 110a Abs. 3 Satz 2 SGG. Wir bitten um Prüfung, ob die Regelung klarer gefasst werden kann. Insbesondere durch die Verweisung auf Satz 1 und nicht auch auf Satz 2 des Absatzes 2 könnte man darauf schließen, dass lediglich gestattende, nicht aber auch ablehnende Beschlüsse gemeint sind. Wir schlagen daher vor, § 110a Abs. 5 SGG-E wie folgt klarer zu fassen:

Gestattende und ablehnende Entscheidungen nach Absatz 2, Absatz 3 Satz 1 und Absatz 4 Satz 1 sind unanfechtbar.“

 

Absatz 6

Die Einzelbegründung zu § 110a Abs. 6 SGG geht davon aus, dass in Erörterungsterminen keine Beweisaufnahme stattfindet, weswegen der Verweis auf den Absatz 3 ausgenommen ist. Dies ist zumindest missverständlich, da die Vernehmung von Zeugen und Sachverständigen als Maßnahme der Vorbereitung der mündlichen Verhandlung (§ 106 Abs. 3 Nr. 4 SGG) regelmäßig nicht als gesonderte Beweisaufnahmetermin durchgeführt, sondern mit einem Erörterungstermin verbunden wird. Der Entwurf führt insoweit die bisherige Rechtslage fort, die aber zu Irritationen Anlass gibt. Für die Vernehmung von Zeugen und Sachverständigen als Maßnahme der Vorbereitung der mündlichen Verhandlung sieht die Literatur mehrheitlich eine unmittelbare Anwendung von § 110a Abs. 2 SGG (entspricht § 110a Abs. 3 SGG-E) vor (Roller in: Berchtold, 6. Aufl. 2021, § 110a Rn. 26 und die dort zitierte gegenteilige Ansicht; B. Schmidt in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Aufl. 2020, § 110a Rn. 17; Stäbler in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 2. Aufl., § 110a SGG, Stand: 24.06.2022, Rn. 13). Es gibt auch keinen Grund, Erörterungstermine mit Beweisaufnahme von der Möglichkeit der Durchführung als Videokonferenz auszunehmen.

Wir schlagen daher vor, die Vorschrift klarer zu fassen: 

Absätze 1 bis 5 gelten entsprechend für Erörterungstermine (§ 106 Abs. 3 Nummer 7).“

 

§ 111 Abs. 1 Satz 2 SGG-E

Die Gestattung des persönlichen Erscheinens im Rahmen einer Videokonferenz wird von den Sozialgerichten bereits so praktiziert. Die Ergänzung der Vorschrift aus Gründen der Klarstellung ist daher sachgerecht.

 

§ 122 SGG-E

Die Ergänzung, wonach Regelungen des SGG den Vorschriften der ZPO über die Protokollierung, auf die verwiesen wird, vorgehen, erscheint nicht zwingend erforderlich. Sie dient daher lediglich der Klarstellung, wogegen aber keine Einwendungen bestehen.

 

Dr. Steffen Roller, Direktor des Sozialgerichts

Vorsitzender BDS

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