Nr. 1/23

01/23

Stellungnahme zum Entwurf der Neufassung der „Reichenhaller Empfehlung“ - Empfehlung für die Begutachtung der BKen Nr. 1315, 4301 und 4302 (Stand 10.01.2023)

Im Nachgang zu den mündlichen Ausführungen auf dem Online-Kolloquium der DGUV vom 03.02.2022 soll zu einigen der diskutierten Punkte kurz schriftlich Stellung genommen werden.

Für die Erläuterung des Begriffs der obstruktiven Atemwegserkrankung gibt die Reichenhaller Empfehlung den von den Sozialgerichten zu bestimmenden aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand wieder (BSG, Urteil vom 21. März 2006, B 2 U 24/04 R, SozR 4-1300 § 84 Nr. 1, juris-Rn. 14; Bayerisches LSG, Urteil vom 4. Februar 2015, L 2 U 430/12, juris-Rn. 42; Bayerisches LSG, Urteil vom 15. März 2017, L 17 U 88/14, juris-Rn. 21). Das setzt eine regelmäßige Überarbeitung der Begutachtungsempfehlung voraus. Die aktuelle Überarbeitung ist, soweit von außen zu beurteilen, fachlich und wissenschaftlich auf hohem Niveau erfolgt. Es spricht zumindest bisher nichts dagegen, dass die Neufassung in ihrer Gesamtheit dem Anspruch, den aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand wiederzugeben, weiterhin gerecht wird.

Aus Sicht der sozialgerichtlichen Praxis ist insbesondere positiv anzumerken:

  1. Die Ausführungen zu den arbeitstechnischen Voraussetzungen (typische Expositionen) sind erweitert worden (Seite 8, Zeile 7 ff). Das ist für die Gerichte hilfreich. Denn wenn die arbeitstechnischen Voraussetzungen nicht im Vollbeweis nachgewiesen sind, bedarf es keiner medizinischen Ermittlungen zu etwaigen ursächlichen Zusammenhängen. Die arbeitstechnischen Voraussetzungen können die Gerichte oftmals aufgrund der sehr ausführlichen Ermittlungen der Unfallversicherungsträger eigenständig nachvollziehen, also ohne Hilfe eines arbeitstechnischen Sachverständigen.

  2. Wichtig ist der Hinweis (wie bisher), dass es sich bei der MdE-Einschätzung um eine bloße Empfehlung des Sachverständigen handelt, die MdE letztlich rechtlich zu bewerten ist (Seite 42, Zeile 10).

  3. Erfreulich ist, dass der Hinweis auf die fehlende Übertragbarkeit der GdB/GdS-Werte deutlicher als bisher ausgefallen ist (Seite 41, Zeile 37). Dies beachten Sachverständige gelegentlich nicht.

  4. Gleiches gilt für den deutlicheren Hinweis, dass die MdE unabhängig von dem bisherigen Beruf und der Qualifikation bestimmt wird (Seite 42, Seite 26). Auch hier zeigt die gerichtliche Praxis hin und wieder gutachterliche Fehler.

Die nachfolgenden Anmerkungen sollen als Anregung verstanden werden, einzelne Punkte in der weiteren Diskussion der Kommission nochmals zu überprüfen.

  1. Im Adressatenkreis der Begutachtungsempfehlung werden primär die ärztlichen Sachverständigen genannt, erst danach die Sachbearbeiter der Unfallversicherungsträger, diese selbst, die Sozialgerichtsbarkeit und schließlich die Betroffenen (Seite 5, [Ziele], auch www.dguv.de/de/versicherung/berufskrankheiten/begutachtung/index.jsp). In der Neufassung fällt auf, dass die Passagen mit rechtlichen Hinweisen zugenommen haben. Der Sachbearbeitung rechtliche Hinweise zu geben, ist unproblematisch. Sie wendet Rechtsbestimmungen an, ist erfahren im Umgang mit Verwaltungsvorschriften und rechtlichen Erläuterungen. Es ist aber nicht gänzlich risikofrei, dass diese Hinweise notwendigerweise auch von Ärzten zur Kenntnis genommen werden. 
    In der sozialrechtlichen medizinischen Begutachtung besteht hier seit jeher ein Spannungsfeld. Einerseits ist die Rollenverteilung klar getrennt, entsprechend der Sachkunde - also Sachbearbeiter/Jurist für die rechtlichen Voraussetzungen und Mediziner für die Feststellung medizinischer Tatsachen. Andererseits erlangt der im Sozialrecht tätige Nichtmediziner zwangsläufig einige medizinische Kenntnisse, welche es ihm erleichtern, ärztliche Äußerungen einzuordnen und kritisch würdigen zu können. Spiegelbildlich hierzu bedarf der ärztliche Sachverständige einiger grundlegender Informationen über den materiell-rechtlichen Hintergrund der an ihn gerichteten Beweisfragen, um diese vollständig zu erfassen (s. bereits Roller, SGb 1998, 401, 402).
    Gerichte haben, wenn sie an die Sachverständigen gerichtete Beweisfragen sehr ausführlich und rechtlich unterfüttert formulieren, nicht immer gute Erfahrungen gemacht. Mediziner fühlen sich damit entweder überfordert oder aber veranlasst, ebenfalls rechtlich zu argumentieren, was ihre gutachtlichen Aussagen angreifbar machen kann. Eine klarere Trennung der Aussagen im Blick auf den konkreten Adressatenkreis wäre daher wünschenswert.
    Wenn man die Neufassung der Reichenhaller Empfehlung betrachtet, kann beispielhaft auf die Hinweise zur Rechtsprechung des BSG zu Systemerkrankungen verwiesen werden, also Erkrankungen, bei denen mehrere BKen betroffen sind (Seite 50, Zeile 23). Hier finden sich eine ganze Reihe von Nachweisen aus Rechtsprechung und Literatur. Es wird wohl kaum erwartet, dass ein medizinischer Sachverständiger oder auch ein Sachbearbeiter, der kein Volljurist ist, dies nachliest und sich damit näher beschäftigt.
    Das gilt auch für die Darstellung rechtliche Detailfragen, wie die Bestimmung einer richtungsgebenden Verschlimmerung mit entsprechender Zitierung des Hessischen LSG (Seite 12, Seite 32). Insoweit stellt sich die zusätzliche Frage, ob eine für bestimmte BKen formulierte Gutachtensanleitung der richtige Ort für diese eher allgemeinen, alle BKs betreffenden Hinweise ist. Zu verweisen ist auch auf die deutlich erweiterten, für Sachverständige durchaus wichtigen Ausführungen zum Recht des Begutachtungsverfahrens (Seite 13, Seite 36 ff.). Hierzu gibt, wenn auch für Arbeitsunfälle, wo sich häufig die gleichen Fragen stellen, einschlägige Arbeitshilfen der DGUV (Grundlagen der Begutachtung von Arbeitsunfällen - Erläuterungen für Sachverständige -, Neuauflage September 2021, publikationen.dguv.de/widgets/pdf/download/article/3057).

  2. Zum Begutachtungszeitpunkt für die Feststellung der MdE findet sich der Hinweis, dieser solle grundsätzlich zeitnah zum mutmaßlichen Rentenbeginn erfolgen, aber zuvor sollen geeignete, Leitlinien-gerechte Therapiemaßnahmen umgesetzt worden sein und, soweit möglich, auch individualpräventive Maßnahmen (Seite 44, Zeile 34). 
    Es ist zu befürchten, dass die Sachbearbeitung, welche die Begutachtung ja einzuleiten hat, diese Passage bei Unsicherheiten zum Anlass nimmt, den Gutachtensauftrag eher hinauszuschieben. Die Frage, ob der Versicherte ausreichend therapiert, auch, welcher Leistungsträger hierfür zuständig ist, ist oftmals streitig. Es ist mit unterschiedlichen Einschätzungen der behandelnden Ärzte, des Versicherten, der Beratungsärzte und auch des Sachverständigen zu rechnen. Je weiter die MdE-Einschätzung in die Vergangenheit gehen muss, umso unsicherer ist sie. Nachdem die Unterlassung der gefährdenden Tätigkeit als frühestmöglichen Beginn weggefallen ist, wird sich das Problem verschärfen.
    Vielleicht könnte man ergänzen, dass die genannte Vorgabe nur gelten soll, wenn die genannten Maßnahmen unstreitig sind und ein Ergebnis in absehbarer Zeit zu erwarten ist.

  3. Unklar ist, wie der kurze Hinweis auf die Berücksichtigung nicht ausreichender Compliance und/oder Adhärenz bei der MdE-Einschätzung im Rahmen einer „Gesamtschau“ (Seite 50 Zeile 1) zu bewerten ist. Dies könnte so verstanden werden, dass in diesen Fällen eine Herabsetzung der MdE vorzunehmen ist. Mangelnder Mitwirkung im Verfahren wird aber üblicherweise über § 66 SGB I oder in der speziellen Neuregelung des § 9 Abs. 4 Satz 5 SGB VII (hierzu Siefert, NZS 2021, 81, 82) begegnet. Weiterhin ist an den (praktisch sehr seltenen) Fall zu denken, dass die mangelnde Mitwirkung die allein wesentliche Ursache für die Gesundheitsschädigung ist.
    Versicherter und Versicherungsträger sind sich auch nicht immer einig über die Art und Weise der durchzuführenden Therapie. Das gilt in gleicher Weise für die mit dem Fall befassten Ärzte. Insoweit können also längere Auseinandersetzungen erfolgen.
    Eine denkbare Lösung wäre es, den Sachverständigen aufzufordern, Hinweise auf mangelnde Mitwirkung und deren Auswirkungen für den Gesundheitszustand (und damit auch die MdE) zu benennen. Dann könnte die Sachbearbeitung hierauf zielgerichtet reagieren. Diese Aufforderung an den Sachverständigen sollte eher nicht im Kapitel über die MdE-Einschätzung stehen. 

  4. Problematisch erscheint außerdem die (nachgereichte) Formulierung zum Umgang mit Befunden und Einschränkungen bei fehlender Expositionskarenz (Seite 50, Zeile 13 ff). Konsequenz dieser Ausführungen wäre eine MdE von 0, wenn sich der Versicherte nicht mehr der Exposition aussetzt, er vielmehr die schädigende Tätigkeit unterlässt und damit die Krankheitsanzeichen vollständig verschwinden. Damit bliebe allerdings vollständig unberücksichtigt, dass dem Versicherten aufgrund der Auswirkungen der BK ein Teil des allgemeinen Arbeitsmarktes, nämlich dasjenige mit den entsprechenden Expositionen, dauerhaft verschlossen ist. Außer Betracht bleiben kann nur, wenn die gebotene, aber trotzdem unterbliebene Expositionskarenz zu zusätzlichen Krankheitsanzeichen und damit Beeinträchtigungen führt, die sich auch in anderen Bereichen des allgemeinen Arbeitsmarktes auswirken. Nur diese sind nicht zu berücksichtigen.

Eine entsprechende Klarstellung wäre wünschenswert.

 

Dr. Steffen Roller

Direktor des Sozialgerichts

Vorsitzender BDS

Dokumente