Nr. 2/21

Stellungnahme des Bundes Deutscher Sozialrichter (BDS) zur Bewältigung der sog. „Vielklägerproblematik“ im Anschluss an den Gesetzesantrages des Landes Hessen zum Entwurf eines Gesetzes zur Einführung einer besonderen Verfahrensgebühr für Vielkläger im sozialgerichtlichen Verfahren vom 31.08.2020, BR-Drs. 495/20

 

Der BDS spricht sich dafür aus, die Problematik der sog. „Vielkläger“ im sozialgerichtlichen Verfahren innerhalb der neuen Legislaturperiode des Deutschen Bundestag zügig gesetzgeberisch anzugehen.

Nach dem nunmehr wohl als endgültig zu betrachtendem Scheitern der zuletzt von Hessen in das Gesetzgebungsverfahren eingebrachten Konzeption einer besonderen Verfahrensgebühr stellt sich die Frage, wie man dem weiterhin virulenten Praxisproblem des Vielklägers begegnen kann. Hierbei handelt es sich um Personen, die in einer relativ kurzen Zeitspanne eine Vielzahl im Wesentlichen aussichtsloser Verfahren an den Sozialgerichten anhängig machen. Auch soweit dabei materiell-rechtliche Fragestellungen betroffen sind, treten im überwiegenden Teil der Fälle querulatorische Tendenzen auf bzw. hinzu (Versuch einer Blockade der Sozialverwaltung, „Sammeln“ von Aktenzeichen etc.).

Dass eine weitere Befassung mit diesem Thema erforderlich ist, liegt auf der Hand: Im Ergebnis ist hierdurch nämlich kein geringeres Gut als die Funktionsfähigkeit der Sozialgerichtsbarkeit angesprochen, bedenkt man, dass Ausgangs- und Endpunkt der Debatte um den Umgang mit äußerst klagefreudigen, aber kaum erfolgreichen Klägern, die nicht nur vereinzelte Prozesse, sondern wahrhaftige Verfahrensmassen produzieren, die im Wesentlichen sinnlose Bindung justizieller Arbeitskraft ist. Diese wird dringend andernorts benötigt und fehlt dort.

Freilich mag man einwenden, „schwierige Kläger“ stellten kein spezifisch sozialrechtliches, genauer: sozialgerichtliches Problem dar. Dabei wird jedoch verkannt, dass derart missbräuchliche Verhaltensweisen sowie insbesondere deren gebündeltes Auftreten durch die auch heute noch umfangreiche Gerichtskostenfreiheit evident begünstigt werden. Insofern stellt der Vielkläger doch in gewissem Umfang ein „Privileg“ der Sozialgerichte dar.

Aus ebendieser Praxis wird berichtet, dass mittlerweile auch Assessoren und Jungrichter die Sozialgerichtsbarkeit wegen eben dieser „Verfahrenstypen“ wieder verlassen. Dabei handelt es sich angesichts der immensen Bedeutung des breitgefächerten Sozialrechts im juristischen Alltag um eine nicht hinnehmbare Situation.

So einig man sich in einschlägigen Kreisen aber über das Bestehen der beschriebenen Herausforderungen ist, so unterschiedlich sind die anvisierten Vorgehensweisen. Sie reichen von einer Ablehnung gesetzgeberischer Tätigkeit sowie Nutzung vorhandener insbesondere Zulässigkeitsschranken (z. B. Rechtsschutzbedürfnis) über die, wie gesehen, nicht mehrheitsfähige Einführung einer besonderen Verfahrensgebühr bis hin zur Modifikation der schon existenten sog. Missbrauchsgebühr (§ 192 SGG) sowie Erleichterung der Vollstreckung der Missbrauchsgebühr in Sozialleistungen.

Die beiden letztgenannten Alternativen sollen nun folgend kurz skizziert werden (ausführlich: Roller, NZS 2021, 508).

Weiterentwicklung der Missbrauchsgebühr (§ 192 SGG)

Denkbar ist, nach dem Vorbild bestehender Regelungen aus dem Bereich mancher Landesverfassungsgerichte einen Vorschuss auf eine in Betracht kommende Missbrauchsgebühr zu verlangen. Ein Antrag bzw. die Klage würde in diesem Fall als zurückgenommen gelten, wenn der Vorschuss nicht fristgerecht eingezahlt würde. Hier stellt sich zum einen das Problem der Bemessung der Höhe des Vorschusses. Dieser darf nicht zu niedrig angesetzt sein, da er sonst die gewünschte Steuerungsfunktion nur unzureichend erfüllen kann. Auch zu hoch darf er indes nicht sein, falls und besonders wenn, wie häufig, eine Bedürftigkeit des betroffenen Klägers eine Rolle spielt. Zum anderen sind selbstredend erhöhte Begründungsanforderungen an den zuständigen Spruchkörper zu stellen sowie eine Rechtsbehelfsoption zu verwirklichen. Beides schmälert die Effizienz des Mittels zusätzlich. Als gravierender Vorteil dieser Möglichkeit ist aber festzuhalten, dass sich die erwünschte Einwirkung auf die typischen Verhaltensweisen sog. Vielkläger schon in einem frühen Verfahrensstadium entfalten würde.

Erleichterung der Vollstreckung der Missbrauchsgebühr

Einen gänzlich anderen Ansatzpunkt wählt dieser Vorschlag. Ausgehend davon, dass Vielkläger gemäß umfangreicher Erfahrungswerte ihren Lebensunterhalt selten durch eine insbesondere bedarfsdeckende Erwerbstätigkeit bestreiten, ist die Missbrauchsgebühr, sei es in ihrer aktuellen oder einer angepassten Fassung, nicht oder nur sehr eingeschränkt tatsächlich realisierbar. Dass dem Gesetz ein Zugriff auch auf ergo relevante Sozialleistungen aber nicht schon dem Grunde nach fremd ist, zeigen spezifische Konstellationen aus dem Recht der Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II) sowie der Sozialhilfe (SGB XII). Dort ist den Sozialleistungsträgern ein entsprechendes Vorgehen gestattet, falls es z. B. um eine Sanktion wegen Pflichtverletzung, den Ersatz bei sozialwidrigem Verhalten sowie der Erstattung zu Unrecht erbrachter Leistungen geht. Die Übertragung dieser Wertung wäre demgemäß auch auf die Vollstreckung der Missbrauchsgebühr denkbar.

Der BDS unterstützt als Berufsverband der Sozialrichter Ansätze zur Begrenzung missbräuchlicher Verfahrensproduktion entschieden, muss bei entsprechenden Vorschlägen aber besonders die verfassungsrechtliche Dimension entsprechender Berührungen von Art. 19 Abs. 4 GG gegenwärtig sehen. Unzweifelhaft sind nämlich bei jedweder Erschwerung oder Beschränkung des Zugangs zu den Gerichten auch und besonders durch finanzielle Belastungen höchste Güter unserer Rechtsordnung betroffen.

Im Ergebnis lässt sich sagen, dass auch soweit Einigkeit über den Weg zur Begrenzung unangemessener Verfahrensproduktion bisher nicht erzielt werden konnte, das Problem des „Vielklägers“ doch, wie beschrieben, mindestens unverändert bestehen bleibt, wenn es nicht prognostisch unter Berücksichtigung der immensen wirtschaftlichen und damit sozialen Verwerfungen als Nachwehen der Corona-Pandemie sogar noch an Bedeutung gewinnen wird. Eine Befassung mit der Problematik durch den Gesetzgeber ist demgemäß dringend erforderlich.

 

Martina Bittenbinder

Richterin am Sozialgericht

Mitglied des Vorstands des BDS

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