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Stellungnahme zum Entwurf der „Empfehlung für die Begutachtung von Post-COVID“ (Fassung vom 27.08.2024)

Der Bund deutscher Sozialrichter (BDS) bedankt sich für die Gelegenheit, bei dem Kolloquium zur „Begutachtungsempfehlung Post-Covid“ am 2. Dezember 2024 in Berlin mitzuwirken.

Der BDS ist der Dachverband der im Deutschen Richterbund (DRB) organisierten Richterinnen und Richter der Sozialgerichtsbarkeit in den Bundesländern. Er hat es sich zur Aufgabe gemacht, die spezifischen berufspolitischen Interessen der Richterinnen und Richter der Sozialgerichtsbarkeit auf Bundesebene sowohl nach außen als auch innerhalb des DRB zu vertreten. Außerdem bildet der BDS eine Plattform, auf der die Anliegen der sozialgerichtlichen Fachvereinigungen des DRB aus den einzelnen Bundesländern koordiniert und Informationen ausgetauscht werden können. Auch nimmt der BDS regelmäßig zu Gesetzesentwürfen mit Bezug zur Sozialgerichtbarkeit Stellung und gibt Impulse aus richterlicher Praxis, wobei er hierbei vorrangig auf verfahrensrechtliche Fragestellungen und die Auswirkungen auf die richterliche Tätigkeit eingeht.

Die „Begutachtungsempfehlung Post-Covid“ betrifft die gesetzliche Unfallversicherung und berührt damit Fälle, die in den Zuständigkeitsbereich der Sozialgerichte fallen. Kläger, die Ansprüche in Anknüpfung an eine Infektion mit SARS-CoV-2 geltend machen, bringen hier regelmäßig unspezifische Beschwerden verschiedener körperlicher Funktionsbereiche vor. Im Rahmen von Begutachtungen haben Richterinnen und Richter mithin ein besonderes Augenmerk auf die Besonderheiten der Differentialdiagnostik zu legen. Dies dürfte regelmäßig ein medizinisches Konsil erforderlich machen (vgl. auch Zeile 3280 der „Begutachtungsempfehlung Post-Covid“), was im Rahmen der gerichtlichen Ermittlungen etwa durch Haupt- und Nebenbegutachtung abgebildet werden kann. Hier passende und befähigte Gutachterinnen und Gutachter zu finden, auszuwählen und zielführend zu instruieren, ist unerlässlich für die sozialgerichtliche Rechtsfindung und unterstreicht die Bedeutung der „Begutachtungsempfehlung Post-Covid“.

Zu deren Entwurf nimmt der BDS im Einzelnen wie folgt Stellung:

 

Zeile 404

Der Hinweis auf den aktuellen wissenschaftlichen Kenntnisstand zum Nachweis der in BK-Nr. 3101 verlangten Infektionsgefahr könnte in die Irre führen. Nach der Rechtsprechung des BSG reicht der Nachweis einer besonderen, über das normale Maß hinausgehenden Ansteckungsgefahr, welcher der Versicherte bei der Berufstätigkeit ausgesetzt ist. Eine bestimmte Infektionsquelle muss nicht nachgewiesen sein (BSG, Urteil vom 30. März 2023, B 2 U 2/21 R, BSGE 136, 33 Rn. 17).

 

Zeile 416 + Zeile 534

Zum haftungsbegründenden Ursachenzusammenhang beim Arbeitsunfall gibt es mittlerweile obergerichtliche Rechtsprechung (LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 29. April 2024, L 1 U 2085/23, Breithaupt 2024, 649; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 22. Juli 2024, L 3 U 114/23, juris). Es wird angeregt, diese auszuwerten und zu prüfen, ob die dort entwickelten Kriterien ganz oder teilweise übernommen werden können. Eine Angleichung zu den gerichtlichen Maßstäben wäre zur Herstellung von Rechtssicherheit für die Beteiligten zu begrüßen. Für den Nachweis des Kontaktes mit einer Indexperson, d.h. Person, die bereits vor dem Versicherten mit dem Virus SARS-CoV-2 infiziert war, sollte das Ergebnis eines positiven PCR-Tests und nur u.U. auch Schnelltests bzw. Antigen/körper-Test genügen; unspezifische Symptome, d.h. allgemeine Krankheitssymptome (Müdigkeit, Abgeschlagenheit, Kopf- und Gliederschmerzen, Fieber, Appetitlosigkeit, allgemeines Unwohlsein), sind hingegen nicht ausreichend.

 

Zeile 557

Der häufigste und zugleich problematischste Fall in der gerichtlichen Praxis ist die Beurteilung, ob ein Post-COVID-Syndrom („Symptom“, wie in der aktuellen Fassung dürfte durch „Syndrom“ zu ersetzen sein) mit einem eher überschaubaren Gesundheitserstschaden zu erheblichen und lang andauernden Gesundheits(folge)schäden geführt hat. Dies könnte deutlicher herausgestellt werden.

 

Zeile 598

Die Ausführungen zum Zusammenwirken von Gutachter/Gutachterin und Unfallversicherungsträger (3.3) und zu den allgemeinen Anforderungen an den Gutachter/die Gutachterin (3.4.1) weisen höchstens ansatzweise COVID-19-spezifische Besonderheiten auf. Verwiesen wird auf die Veröffentlichung „Empfehlungen der gesetzlichen Unfallversicherungsträger zur Begutachtung bei Berufskrankheiten“ von 01/2004) (Zeile 667). Es erscheint auch ein Hinweis auf die Veröffentlichung „Grundlagen der Begutachtung von Arbeitsunfällen - Erläuterungen für Sachverständige“ von 09/2021 angezeigt. Damit könnten die Abschnitte deutlich gestrafft werden.

 

Zeile 721

Das gilt auch für die Ausführungen zu den spezifischen Anforderungen (3.4.2). Es sollte kritisch geprüft werden, ob insbesondere für das internistisch-pneumologische Fachgebiet, das dermatologische Fachgebiet und das Fachgebiet HNO nicht auf die parallelen Anforderungen nach den „Empfehlungen der gesetzlichen Unfallversicherungsträger zur Begutachtung bei Berufskrankheiten“ verwiesen werden kann, oder ob es tatsächlich zusätzliche COVID-19-spezifischer Anforderungen an die Gutachter bedarf.

In der gerichtlichen Praxis (und dem Vernehmen auch in der Verwaltungspraxis) hat es sich als äußerst schwierig gezeigt, geeignete Sachverständige zu finden. Je mehr Anforderungen an die Gutachter aufgestellt werden, desto geringer ist die Chance, dass die Begutachtung auch tatsächlich zustande kommt.

 

Zeile 1048

Das Kriterium des Krankheitsverlaufes dürfte den Vorteil haben, relativ objektivierbar zu sein. Hierzu wird in der Begutachtungsanleitung aufgeführt, dass die Beschwerden entweder nach der Infektion längerfristig bestehen oder im Verlauf von Wochen und Monaten nach der Infektion neu oder wiederkehrend auftreten können. Dies dürfte dem aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand entsprechen. Trotzdem wäre es hilfreich, zum zeitlichen Zusammenhang zwischen Infektion und nachfolgenden Beschwerden - falls medizinisch wissenschaftlich überhaupt möglich – genauer auszuführen.

Der Ablauf von Infektion und Erkrankung dürfte wesentliche Argumente für die Diagnose und auch für die Beurteilung der Kausalität liefern. Er wird auch nachfolgend immer wieder als Kriterium genannt (Zeile 1293 zum Fatigue-Syndrom: „plausiblem zeitlichen Zusammenhang“; Zeile 1141 zu psychischen und psychosomatischen Störungen und Zeile 2522 zur Pneumologie: „geeigneter zeitlicher Zusammenhang“, Zeile 3227 zur Kausalität: „nachvollziehbaren klinischen Verlauf“). Es wäre für die Gutachter sicherlich wichtig, genauer zu erfahren, was die Verfasser der Begutachtungsanleitung als „plausibel“, „geeignet“ oder „nachvollziehbar“ ansehen. Teilweise wird ein Decrescendo-Verlauf der Symptomatik erwähnt, doch dürfte sich der Krankheitsverlauf als Beurteilungskriterium hierauf nicht erschöpfen.

 

Zeilen 1383, 1768, 1855, 1946,2 1526, 2807, 2945

Durchgehend findet sich die Empfehlung, bei der Diagnose auf „ein authentisches Gesamtbild“ in Zusammenschau von Aktenlage, Anamnese, Beschwerdeschilderung, und Befunden abzustellen. Dies dürfte im Kern zutreffend sein, erscheint aber in dieser Formulierung zu vage und im Einzelfall kaum validierbar. Es birgt daher die Gefahr, rein subjektiver Bewertungen.

Das setzt sich bei den Ausführungen zur Kausalität (Zeile 3227: „schlüssiges Bild in der Zusammenschau von Akten und klinischen Bild“) fort.

 

Zeile 2989

Die Ausführungen der Begutachtungsanleitung zu (weiteren) für die Diagnose bedeutsamen Erkrankungen/Veränderungen stehen isoliert am Ende des Abschnitts über die Diagnose. Es erscheint stimmiger, diese in die allgemeinen Ausführungen zu Beweis- und Kausalitätsgrundsätzen (3.2) zu integrieren.

 

Zeile 3017

Im Adressatenkreis der Begutachtungsempfehlung werden primär die ärztlichen Sachverständigen genannt, erst danach die Sachbearbeiter der Unfallversicherungsträger, diese selbst, die Sozialgerichtsbarkeit und auch die Betroffenen (Zeile 114). Abschnitt 5.1 enthält allgemein gehaltene, nur ansatzweise spezifische Bezüge zur COVID-19-Erkrankung aufweisende rechtliche Ausführungen. Die Sachverständigen dürften insoweit die falschen Adressaten sein. Die übrigen Adressaten bedürfen dieser Ausführungen nicht. Es wird daher angeregt, auf sie zu verzichten und sich mit einem Verweis auf die Veröffentlichung „Grundlagen der Begutachtung von Arbeitsunfällen - Erläuterungen für Sachverständige“ von 09/2021 zu begnügen.

 

Zeile 3240

In den Ausführungen zur Kausalität wird der Fall persistierender unspezifischer Beschwerden ohne korrespondierende Organpathologie zutreffend als „große Herausforderung“ für den Gutachter benannt. In der Tat handelt es sich nach den Erfahrungen der gerichtlichen Praxis vor allem um solche Fälle, deren Bewertung aufwendig und schwierig ist. Sie bereiten der Verwaltung wie den Gerichten große Probleme. Gerade deswegen dürften erhebliche Hoffnungen auf die Begutachtungsanleitung gesetzt werden, hierfür belastbare Abgrenzungskriterien zu erhalten. Die genannten wenigen Kriterien (Abgrenzung zu infektionsunabhängigen konkurrierenden Erkrankungen, Belastungsfaktoren, Aggravationstendenzen) dürften vor dem Hintergrund einer über 100 Seiten langen Begutachtungsanleitung zu knapp sein, um eine wirkliche Hilfestellung zu geben. Auch stellt sich die Frage, wie die zu diskutierenden Konkurrenz-Faktoren nachzuweisen sind (etwa Auswertung Vorerkrankungsverzeichnis, Sozialanamnese, …).

 

Zeile 3280

Ein fachübergreifendes Begutachtungskonsil dürfte in der überwiegenden Zahl der Fälle bei Post/Long-Covid sachgerecht, aber in der Praxis schwer darstellbar sein. Konkrete Anhaltspunkte für eine zielgerichtete Auswahl von Haupt- und Nebengutachterinnen und -gutachtern wären – neben der recht pauschalen Verweisung auf die „stärkste Funktionsbeeinträchtigung“ (Zeile 3283) – hilfreich.

 

Zeile 3306

Die vorgeschlagenen Werte zur Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) beim Fatigue-Syndrom entsprechen wohl der Literatur (vgl. Schönberger/Mertens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 10. Aufl. 2024, S. 814). Die darin angelegte grundsätzliche Öffnung für einen Wert über 30 v.H. erscheint jedoch zu unspezifisch, angesichts der in der gerichtlichen Praxis teilweise geschilderten ganz erheblichen Beeinträchtigungen. Die Begutachtungsanleitung sollte die Chance nutzen, genauere Vorschläge zu machen, in welchen Fällen ein höherer Wert angemessen erscheint.

 

Zeilen 3356, 3362

Zur MdE-Bewertung bei Schmerzsyndromen sowie psychischen und psychosomatischen Störungen wird auf die entsprechenden Vorschläge in den Leitlinien verwiesen. Es würde die Handhabbarkeit der Begutachtungsanleitung erhöhen, wenn die dort genannten Werte ausdrücklich aufgeführt würden, wie dies auch bei den anderen Erkrankungen geschehen ist.

 

Dr. Anna Weilnhammer

Richterin am Sozialgericht

Mitglied des Vorstands des BDS

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