Nr. 01/12

Stellungnahme des BDS zum Referentenentwurf eines Zweiten Gesetzes zur Modernisierung des Kostenrechts

I. Vorbemerkung

Die nachfolgende Stellungnahme konzentriert sich auf die Vorschriften des Entwurfs, die Auswirkungen auf das sozialgerichtliche Verfahren haben und gibt ergänzende Anregungen dazu. Dabei legt der BDS folgende Leitgedanken zugrunde:

  1. Eine angemessene Honorierung der im Sozialgerichtsprozess tätig werdenden Rechtsanwälte und eine angemessene Vergütung der zur Beweiserhebung herangezogenen Sachverständigen müssen im Interesse der Gerichtsbarkeit gewährleistet sein.

  2. Die kostenrechtlichen Besonderheiten im sozialgerichtlichen Verfahren dürfen nicht dazu führen, dass der Anschein entsteht, es handele sich um nachrangige, wenig bedeutsame Streitsachen.

  3. Die kostenrechtlichen Besonderheiten sollten allerdings auch nicht zu einer übermäßigen Inanspruchnahme der Landeskassen führen.

  4. Die anwaltliche Tätigkeit in Streitsachen, welche eine langfristige soziale Absicherung der Kläger zum Gegenstand haben (insbesondere unfallversicherungs- und rentenversicherungsrechtliche Streitigkeiten), sollte nicht niedriger honoriert werden als in Streitigkeiten, welche die vorübergehende soziale Sicherung der Kläger zum Gegen- stand haben (insbesondere Streitsachen um Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II).

  5. Die Novellierung sollte nach Möglichkeit bisher bestehende Streitfragen durch klarstellende Regelungen beilegen und vermeiden, neue Streitfragen aufkommen zu lassen.

 

II. Harmonisierung von Vorschriften im Kostenrecht

Der BDS begrüßt die in § 1 Abs. 3 RVG und § 1 Abs. 5 JVEG des Gesetzentwurfes vorgesehene Klarstellung, wonach die Vorschriften des JVEG bzw. des RVG über die Erinnerung und die Beschwerde den Regelungen der für das zugrunde liegende Verfahren geltenden Verfahrensvorschriften vorgehen.

Dies hat zur Folge, dass die Beschwerde gegen die Erinnerungsentscheidung eines Sozialgerichts über die Vergütung eines beigeordneten Rechtsanwalts nach §§ 56, 33 Abs. 3 RVG zulässig ist. In der Rechtsprechung der Landessozialgerichte ist dies umstritten (bejahend:LSG NRW, Beschluss vom 20.12.2006, L 18 B 8/06 KN; Beschluss vom 9.8.2007, L 20 B 91/07 AS; Beschluss vom 16.12.2009, L 19 B 180/09 AS; LSG Sachsen, Beschluss vom 21.6.2005, L 6 B 73/04 RJ/KO; Bay LSG, Beschluss vom 13.01.2010, L 13 SF 288/09 E; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 17.02.2010, L 30 SF 56/09 B E; verneinend: LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 28.12.2006, L 8 B 4/06 SO SF; LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 22.10.2010, L 8 B 21/08 SO; LSG Schleswig-Holstein, Beschluss v. 29.1.2011, L 1 B 266/09 SF E; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 08.3.2011, L 6 SF 236/09 B). Die Zulässigkeit einer Beschwerde des Sachverständigen gegen die Festsetzung der Vergütung nach Maßgabe der Vorschriften des JVEG ist in der Rechtsprechung der Landessozialgerichte bisher ebenfalls umstritten (statt vieler: bejahend LSG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 03.09.2009, L6 R 303/09 B; LSG NRW, Beschluss vom 16.02.2010, L 4 B 13/09; verneinend LSG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 07.04.2008, L 2 B 47/08 SB).

Die vorgesehene Klarstellung bietet zudem den Vorteil, dass sich nunmehr in jedem Bundesland eine obergerichtliche Rechtsprechung zum anwaltlichen Gebührenrecht im sozialgerichtlichen Verfahren zumindest im Bereich der Gebührenfestsetzung von beigeordneten Rechtsanwälten sowie zum JVEG entwickeln kann.

 

III. Änderungen des JVEG

Die Einführung einer Belehrungspflicht nach § 2 Abs. 1 Satz 1 JVEG erscheint angesichts der lediglich drei Monate umfassenden Ausschlussfrist zur Geltendmachung des Anspruchs auf Vergütung oder Entschädigung interessengerecht. Es ist zu erwarten, dass nach Einführung der Belehrungspflicht die Zahl der Anträge auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 2 Abs. 2 JVEG zurückgehen wird. Die Klarstellung nach Abs. 1 Satz 2 sowie die neu einzuführende Vermutung nach Abs. 2 Satz 1 sind ebenfalls zu begrüßen. Hierdurch werden weitere bisher potenziell bestehende Streitfragen bei der Festsetzung der Vergütung oder Entschädigung geklärt.

Die Neuregelungen in § 8a JVEG-Entwurf sind unterschiedlich zu beurteilen. Der in Abs. 1 vorgesehene Wegfall des Anspruchs setzt den unterlassenen Hinweis auf Umstände, welche die Ablehnung des Berechtigten rechtfertigen, voraus. Dies kann nur solche Umstände betreffen, die für den Berechtigten erkennbar sind. Von ihm kann nicht erwartet werden, dass er die in der Gesetzesbegründung zitierte Literatur und Rechtsprechung im Einzelnen kennt.

Die in Abs. 2 des Entwurfs vorgesehenen Regelungen zur Minderung der Vergütung des Sachverständigen in bestimmten Fällen sind grundsätzlich zu begrüßen. Die in Bezug genommenen Regelungen des § 407a Abs. 1 bis 3 ZPO knüpfen an die bereits vorhandene Rechtsprechung zur eingeschränkten Verwertbarkeit bzw. zur Nichtverwertbarkeit von Sachverständigengutachten in bestimmten Fällen an. Die in Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 vorgeschlagene Mitteilungspflicht des Sachverständigen, falls der Auftrag nicht in sein Fachgebiet fällt, ist zu begrüßen. Gleiches gilt für die in Nr. 3 vorgesehene Regelung. Der in Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 vorgesehene Minderungsgrund der Schlechtleistung dürfte allerdings im sozialgerichtlichen Verfahren schwer zu handhaben sein und dürfte auf wenige Ausnahmefälle anwendbar sein.

Während Abs. 3 die Streitsachen im sozialgerichtlichen Verfahren nicht betreffen dürfte, weil diese unabhängig vom Wert des Streitgegenstandes geführt werden, bringt Abs. 4 eine für das sozialgerichtliche Verfahren bedeutsame Neuregelung. Wird gemäß § 109 SGG die Einholung des Gutachtens eines bestimmten Arztes beantragt, so machen die Sozialgerichte dies in aller Regel von der Einzahlung eines Kostenvorschusses abhängig. Daher kommt es durchaus nicht selten vor, dass der geltend gemachte Vergütungsanspruch den Kostenvorschuss wesentlich übersteigt. Nach bisheriger gefestigter Rechtsprechung in der Sozialgerichtsbarkeit erhält der Sachverständige dann, wenn er der Hinweispflicht nach § 407a Abs. 3 Satz 2 ZPO nicht nachgekommen ist, die Vergütung gekürzt auf die Höhe des Kostenvorschusses zuzüglich eines Zuschlages von 10% (statt vieler: LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 07.01.2011, L 2 SF 173/10 B). Dieser Zuschlag wird ihm angesichts der Schwierigkeit der Einschätzung der künftig entstehenden Vergütung (etwa hinsichtlich des Umfangs der zu vergütenden Zeitanteile) zugebilligt. Die Rechtsprechung der Oberlandesgerichte setzt diesen Zuschlag sogar in Höhe von 20% – 25% an (statt vieler: OLG Düsseldorf, Beschluss vom 03.02.2005, I-10 W 98/04, 10 W 98/04 mit weiteren Nachweisen). Es ist zu überlegen, ob in Ansehung dieser Rechtsprechung in Abs. 4 des Entwurfs ein Zuschlag in bestimmter Höhe gesetzlich geregelt werden sollte.

 

IV. Änderung des § 14 RVG

Betragsrahmengebühren nach § 14 RVG fallen zwar nicht nur in Verfahren vor den Sozialgerichten, sondern auch in anderen Gerichtszweigen an. Jedoch richtet sich die Honorierung der Rechtsanwälte in sozialgerichtlichen Verfahren ganz überwiegend nach § 14 RVG, da für die Honorierung der anwaltliche Tätigkeit in nach §183 SGG gerichtskostenfreien Verfahren außergerichtlich und gerichtlich die Vorschrift des § 14 RVG (§ 3 Abs. 1 Satz 1, 2 RVG) Anwendung findet. Dies hat zur Konsequenz, das jede Änderung der Kriterien für die Bemessung der Betragsrahmengebühr für die Kostenfestsetzungspraxis der Leistungsträger und der Gerichte von großer Bedeutung ist.

  1. Die in Abs. 1 der Norm vorgesehene Neuregelung bedeutet eine Abkehr von der bisherigen kostenrechtlichen Rechtsprechung in der Sozialgerichtsbarkeit. Die vorgeschlagene Neuregelung ist in mehrerlei Hinsicht unklar. Infolge dessen ist eine Vielzahl von Gebührenstreitigkeiten bei Inkrafttreten der Neuregelung zu erwarten.

    a) Nach der bisherigen Konzeption des § 14 Abs.1 RVG stehen die fünf Bemessungskriterien (Umfang und Schwierigkeit des anwaltlichen Handelns, Bedeutung der Angelegenheit, Haftungsrisiko, Einkommens- und Vermögensverhältnisse) selbständig und gleichwertig nebeneinander. Sämtliche Kriterien sind geeignet, ein Abweichen von der Mittelgebühr nach oben oder unten zu begründen. Zudem kann das Abweichen eines Bemessungskriteriums von jedem anderen Bemessungskriterium kompensiert werden (grundlegend: BSG, Urteil v. 1.7.2009, B 4 AS 21/09 R, juris Rn 21, 39). Das Bundessozialgericht hat dem Umfang und der Schwierigkeit der anwaltlichen Tätigkeit innerhalb der Abwägung nach § 14 RVG keine hervorgehobene Bedeutung beigemessen (BSG, Urteil v. 1.7.2009, B 4 AS 21/09 R; juris Rn 25). Unterdurchschnittliche Einkommens- und Vermögensverhältnisse können danach allein rechtfertigen, eine Herabbemessung der Mittelgebühr vorzunehmen (BSG, Urteil v. 1.7.2009, B 4 AS 21/09 R; juris Rn 39). Insbesondere können die vom Durchschnitt abweichenden Kriterien "Bedeutung der Angelegenheit" und "Einkommens- und Vermögensverhältnisse" sich gegenseitig kompensieren (BSG, Urteil v. 1.7.2009, B 4 AS 21/09 R, juris Rn 39). Dies wird insbesondere in Streitigkeiten nach den SGB II relevant. Das Bundessozialgericht misst den Streitigkeiten wegen Leistungen nach dem SGB II in der Regel weit überdurchschnittliche Bedeutung zu, allenfalls bei Streitigkeiten um monatliche Euro-Beträge im einstelligen Bereich und für einen nur kurzen streitigen Zeitraum von längstens sechs Monaten geht das Bundessozialgericht von einer durchschnittlichen wirtschaftlichen Bedeutung der Angelegenheit für den Auftraggeber aus (BSG, Urteil v. 1.7.2009, B 4 AS 21/09 R, juris Rn 37). In der Praxis hat dies die Konsequenz, dass die weit unterdurchschnittlichen Einkommens- und Vermögensverhältnisse und die weit überdurchschnittliche Bedeutung der Verfahren nach dem SGB II nicht zwangsläufig ein Abweichen der Gebühr von der Mittelgebühr nach oben zur Folge haben, da die überdurchschnittliche Bedeutung des Verfahrens durch die unterdurchschnittlichen Einkommens- und Vermögensverhältnisse kompensiert wird.

    b) Nach der Neuregelung sollen die Kriterien „Schwierigkeit und Umfang der anwaltlichen Tätigkeit“ im Mittelpunkt stehen (Abs. 1 Satz 1). Als weitere Kriterien sollen bei den Betragsrahmengebühren das Haftungsrisiko und die Bedeutung der Angelegenheit hinzutreten (Abs. 1 Satz 3), wobei diese Kriterien gegenüber den erstgenannten Kriterien „Schwierigkeit und Umfang der anwaltlichen Tätigkeit“ offenbar nachrangig sein sollen. Das Kriterium „Einkommen- und Vermögensverhältnisse“ steht nicht mehr gleichwertig neben den anderen Kriterien. § 14 Abs. 1 Satz 2 RVG sieht lediglich vor, dass im Einzelfall besondere Umstände sowie die Einkommens- und Vermögensverhältnisse angemessen zu berücksichtigen sind, wobei in dem Referentenentwurf nicht näher konkretisiert ist, was unter „angemessen“ zu versehen ist. Anscheinend sieht der Referentenentwurf vor, dem Rechtsanwalt ein Ermessen einzuräumen, ob und ggf. in welchem Umfang er die Einkommens- und Vermögensverhältnisse seines Mandanten bei der Gebührenfestsetzung berücksichtigt. Vorgaben für die Ermessensausübung sind dem Referentenentwurf nicht zu entnehmen. Die Einkommens- und Vermögensverhältnisse der Kläger im sozialgerichtlichen Verfahren sind vielfach unterdurchschnittlich. Insoweit wird auf die steigende Zahl von Prozesskostenhilfeanträgen in sozialgerichtlichen Verfahren hingewiesen. Es erscheint fraglich, ob es sich dann noch um Einzelfälle i.S.v. § 14 Abs. 1 Satz 3 RVG handelt.

  2. Es ist ferner fraglich, ob die Annahme des Bundessozialgerichts, dass unterdurchschnittliche Einkommens- und Vermögensverhältnisse es allein rechtfertigen, eine Herabbemessung der Mittelgebühr vorzunehmen (BSG, Urteil v. 1.7.2009, B 4 AS 21/09 R; juris Rn 39) bei Inkrafttreten der Entwurfsfassung zu § 14 Abs. 1 noch aufrechterhalten werden kann und ob in SGB II-Verfahren von einer Kompensation der weit überdurchschnittlichen Bedeutung der Angelegenheit durch unterdurchschnittliche Einkommens- und Vermögensverhältnisse ausgegangen werden kann. Es wird jedenfalls einen erhöhten Begründungsaufwand seitens der Gerichte erfordern, in SGB II-Verfahren bei einer nach der Diktion des Bundessozialgerichts „weit überdurchschnittlichen“ Bedeutung der Verfahren für den Auftraggeber – auch wenn es oftmals um Streitwerte von weniger als 100,00 Euro geht – den Ansatz der Mittelgebühr zu rechtfertigen. Danach kommt der Ansatz einer Mittelgebühr als Regelfall in SGB II– Verfahren angesichts der Neuregelung nur noch dann in Betracht, wenn die Kriterien „Umfang“ und „Schwierigkeit der anwaltlichen Tätigkeit“ als unterdurchschnittlich bewertet werden können. Damit wird im Kostenfestsetzungsverfahren die Bewertung der Kriterien „Umfang“ und „Schwierigkeit“ der anwaltlichen Tätigkeit im Vordergrund stehen, zumal das Kriterium des Haftungsrisikos in der Abwägung nach § 14 RVG im Hinblick auf den im sozialgerichtlichen Verfahren geltenden Amtsermittlungsgrundsatz und die Vorschrift des § 44 SGB X kaum eine Rolle spielt.

  3. Die dem Entwurf zugrunde liegende Auffassung, das Kriterium „Umfang“ sei leicht messbar und ein normaler Schwierigkeitsgrad sei leicht ermittelbar, ist zumindest sehr optimistisch. Insoweit wird auf die Ausführungen des BSG (Urteil v. 1.7.2009, B 4 AS 21/09 R; juris Rn 39) hinsichtlich der zu beachtenden Gesichtspunkte bei der Bewertung des Umfangs und der Schwierigkeit der anwaltlichen Tätigkeit hingewiesen. Dem Entwurf ist nicht zu entnehmen, nach welchen Kriterien der durchschnittlicher Umfang oder die durchschnittliche Schwierigkeit der anwaltlichen Tätigkeit im sozialgerichtlichen Verfahren bemessen werden soll.

    Das Bundessozialgericht (a.a.o.) kennzeichnet den Routinefall auf dem Gebiet des Sozialrechts im Widerspruchsverfahren folgendermaßen: Die Bewertung der rechtlichen Schwierigkeit der anwaltlichen Tätigkeit als durchschnittlich ist dann gerechtfertigt, wenn im Widerspruchsverfahren ein Anspruch auf Leistungen mittels Subsumtion unter die Tatbestandsmerkmale der einschlägigen Rechtsvorschriften, aber ohne umfang- reichere Beweiswürdigung und eingehende Auseinandersetzung mit Rechtsprechung und Literatur dargelegt wird. In einer Anfechtungssituation handelt es sich um einen Routinefall, wenn eine vergleichbare Begründung dazu abgegeben wird, aus welchen Gründen die Voraussetzungen der Rechtsgrundlage, auf die sich der Leistungsträger stützt, nicht vorliegen. Danach sind im Widerspruchsverfahren kaum Konstellationen denkbar, in denen die rechtliche Schwierigkeit einer Tätigkeit als unterdurchschnittlich anzusehen ist. Daher ist nach der Neukonzeption des § 14 Abs. 1 RVG zu erwarten, dass in SGB II-Verfahren im Widerspruchsverfahren in aller Regel eine höhere Gebühr als die Mittelgebühr angesetzt werden muss, da die Bedeutung des Verfahrens nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts in der Regel als überdurchschnittlich zu bewerten ist. Dies wird zu einer höheren Kostenbelastung der Leistungsträger führen und die Zahl der Streitigkeiten, die die Höhe der zu erstattenden Kosten eines isolierten Widerspruchsverfahren nach § 63 SGB X zum Gegenstand haben, wird größer werden.

  4. Anlass zur Klarstellung im Gesetz besteht hinsichtlich des Toleranzrahmens, den die Rechtsprechung dem Rechtsanwalt bei der Bestimmung der Gebühr nach § 14 RVG einräumt, in zweifacher Hinsicht.

    a. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG, Urteil v. 1.7.2009, B 4 AS 21/09 R, BSGE 104 S. 30; zweifelnd noch zur Vorgängervorschrift des § 12 BRAGO: BSG, Urteil v. 22.3.1984, 11 RA 58/83, SozR 1300 § 63 Nr. 4; BVerwG, Urteil v. 17.8.2005, 6 C 13/04) ist die Gebührenbestimmung durch den Rechtsanwalt innerhalb einer Bandbreite bis zu 20% über der vom Gericht als objektiv angemessen gehaltenen Gebühr ermessensgerecht und nicht zu beanstanden. Damit wird der größte Teil des gesamten Gebührenrahmens abgedeckt, wenn die angemessen Gebühr höher als die Mittelgebühr ist.

    b. Während das Bundessozialgericht (BSG, Urteil v. 1.7.2009, B 4 AS 21/09 R) in Anlehnung an die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts davon ausgeht, dass nur dann einem Rechtsanwalt ein Toleranzrahmen eingeräumt wird, wenn der Gebührenansatz von der Mittelgebühr abweicht, weil ein Durchschnittsfall verneint wird, vertritt der Bundesgerichtshof (Beschluss v. 13.01.2011, IX ZR 110/10) die Auffassung, dass der Toleranzrahmen auch bei der Mittelgebühr zu beachten ist; also ein Rechtsanwalt bei Vorliegen eines Durchschnittsfalls bis zu 20% von der Mittelgebühr abweichen darf. Eine gesetzliche Klärung wäre sicherlich sinnvoll.

 

V. Gebühren im einstweiligen Rechtsschutzverfahren

Die Absicht, die Gebühr für ein Beschwerdeverfahren gegen eine Entscheidung nach § 86b SGG zu erhöhen, entspricht der Systematik des RVG, wonach die Gebühren im gerichtlichen Verfahren im Instanzenzug steigen. Es stellt sich jedoch die Frage, ob ein Beschwerdeverfahren nach § 86b SGG in der Regel die gleiche Gebühr wie ein Berufungsverfahren auslösen soll oder ob für Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes im Beschwerdeverfahren Regelungen mit einem eigenen Gebührenrahmen eingeführt werden sollen. In Verfahren, in denen Wertgebühren anfallen, wird der in der Regel geringeren Bedeutung des einstweiligen Rechschutzverfahrens im Vergleich zum Hauptsacheverfahren dadurch Rechnung getragen, dass nur ein 1/4 bis 1/2 des Streitwertes des Hauptsacheverfahrens angesetzt wird. In Verfahren, in denen Betragsrahmengebühren anfallen, kann der geringeren Bedeutung nur beim Kriterium „Bedeutung der Angelegenheit“ Rechnung getragen werden. Dieses Kriterium soll nach der Entwurfsbegründung aber nur nachrangige Bedeutung haben.

 

VI. Wegfall der Regelung der Nr. 3103 VV RVG

Welche Auswirkungen der Wegfall der Nr. 3103 VV RVG verbunden mit der Umstellung auf eine echte Anrechnungslösung hat, ist nicht abzuschätzen. Zu bedenken ist, dass die Rechtsanwälte, die in einem Klageverfahren auftreten, vielfach bereits im Widerspruchsverfahren tätig gewesen sind.

Nach der Entwurfsbegründung ist bei Einführung der sog. „echten“ Anrechnungslösung die Vorschrift des § 15a RVG auf die Gebühren in den Verfahren nach § 183 SGG anwendbar. Nach § 15a Abs. 1 RVG beeinflusst die Anrechnung einer Gebühr auf eine andere nicht das Entstehen der anderen Gebühr; d. h. die aufeinander anzurechnenden Gebühren entstehen zunächst grundsätzlich voneinander unabhängig in voller Höhe ungekürzt. Der Rechtsanwalt kann grundsätzlich beide Gebühren jeweils in voller Höhe geltend machen. Er hat die freie Entscheidung, welche Gebühr er fordert und - falls die Gebühren von verschiedenen Personen geschuldet werden - welchen Schuldner er in Anspruch nimmt. Er darf nur von seinem Mandanten im Ergebnis nicht mehr als den um den Anrechnungsbetrag verminderten Gesamtbetrag beider Gebühren fordern. Eine Anrechnung wirkt sich nach § 15a Abs. 2 RVG im Verhältnis zu Dritten, etwa im Verhältnis zum Prozessgegner oder zur erstattungspflichtigen Staatskasse, grundsätzlich nicht aus. Eine außergerichtlich entstandene Geschäftsgebühr dient nicht dazu, den Kostenerstattungsschuldner einer Verfahrensgebühr zu entlasten; vielmehr ist im Kostenfestsetzungsverfahren die volle Verfahrensgebühr festzusetzen (BT-Drs. 16/12717 S. 68). Der Dritte kann sich auf die Anrechnung nur dann berufen, wenn er auf einer der beiden Gebühren bereits gezahlt oder diese anderweitig erfüllt hat, einer der Gebührenansprüche gegenüber ihm tituliert ist oder beide Gebühren in demselben Verfahren, z. B. im Kostenfestsetzungsverfahren, geltend gemacht werden. In diesen Fällen ist die Geschäftsgebühr anteilig zu berücksichtigen. Der Dritte soll nicht über den Betrag hinaus auf Ersatz oder Erstattung in Anspruch genommen werden, den der Rechtsanwalt von seinem Auftraggeber verlangen kann.

Dies hat zur Konsequenz, dass der Rechtsanwalt im Kostenfestsetzungsverfahren nach § 55 RVG die ungekürzte Verfahrensgebühr, d. h. ohne Abzug des Anrechnungsbetrages – auch wenn er im Widerspruchsverfahren tätig war – in Ansatz bringen kann (vgl. FG Düsseldorf Beschluss vom 10.5.2011, 9 KO 1223/11 KF). Dem Rechtsanwalt steht ein Wahlrecht zu, ob er die Kostenfestsetzung nach § 55 RVG oder nach § 197 SGG beantragt.

Im Hinblick auf die Häufigkeit der Vertretung von Klägern schon im Widerspruchsverfahren und der Erfolgsquote in sozialgerichtlichen Verfahren, wird es nicht selten sein, dass sich der Beklagte im Kostenfestsetzungsverfahren nach § 197 SGG auf die Vorschrift des § 15a Abs. 2 RVG – Anrechnung der Hälfte der Gebühr für das Widerspruchsverfahren auf die Verfahrensgebühr wegen der Verpflichtung zur Erstattung der Kosten des Widerspruchsverfahrens – berufen kann, so dass bei Übergang des Kostenerstattungsanspruchs auf die Staatskasse nach § 59 RVG nicht gewährleistet ist, dass die Staatskasse die an den beigeordneten Rechtsanwalt erstattete ungekürzte Verfahrensgebühr von dem kostenpflichtigen Gegner, der sich auf die Anrechnungsvorschrift berufen kann, verlangen kann. Denn bei einer Kostengrundentscheidung im sozialgerichtlichen Verfahren ist grundsätzlich eine Entscheidung über die Erstattungsfähigkeit der Kosten des Widerspruchsverfahrens zu treffen (siehe Punkt IV), so dass beide Gebühren – Gebühren des Widerspruchsverfahrens und Gebühren des gerichtlichen

Verfahren - in demselben Verfahren, dem Kostenfestsetzungsverfahren nach § 197 SGG, i.S.v. § 15a RVG geltend gemacht werden. Die Staatskasse bleibt in diesem Fall auf der Differenz zwischen voller Verfahrensgebühr und der um den Anrechnungsbetrag geminderten Verfahrensgebühr sitzen, wenn die Regelungen des Kostenfestsetzungsverfahrens nach § 55 RVG nicht ergänzt werden, insbesondere auch die Regelungen der Vorschussgewährung nach § 47 RVG. In Verfahren, in denen Wertgebühren anfallen, wirkt sich die aus der Anwendung des § 15a RVG ergebenden Differenz zwischen der nach § 55 RVG zu erstattenden Verfahrensgebühr und der Minderung der Verfahrensgebühr durch die Anrechnung der Geschäftsgebühr im Kostenfestsetzungsverfahren nach § 197 SGG für die Staatskasse nicht so nachteilig aus, da bei Wertgebühren aus der Staatskasse ab einen Streitwert von 3.000,00 € nach § 49 RVG für die Berechnung der Gebühr ein geringerer Streitwert angesetzt wird. Eine solche Minderung sieht das Gesetz für Betragsrahmengebühren nicht vor.

Auch bleibt nach § 15a RVG unklar, ob sich die beklagte Behörde auf die Vorschrift des § 15a Abs. 2 RVG berufen kann, wenn sie nur einen Teil der Kosten des Widerspruchsverfahrens zu tragen hat. Falls sie sich nur bei einer vollen Übernahme der Kosten des Widerspruchsverfahrens auf § 15a RVG berufen kann, erhöht sich die Kostenlast der Leistungsträger erheblich.

Des weiteren bleibt unklar, ob die Staatskasse bei der Festsetzung der Höhe der Verfahrensgebühr in Verfahren nach § 183 SGG, den sich aus der Vorbefassung mit der Angelegenheit im Widerspruchsverfahren ergebende Synergieeffekt, berücksichtigen darf oder nicht. Bei dem Kriterium „Umfang der anwaltlichen Tätigkeit“ handelt es sich m ein quantitatives Merkmal.

Soweit der Wegfall der Regelung des Nr. 3103 VV RVG damit begründet wird, dass die Anwendung dieser Vorschrift auf Verfahren nach § 86b SGG umstritten ist, hätte es lediglich einer klarstellenden Regelung des Gesetzgebers bedurft, dass die Vorschrift der Nr. 3103 VV RVG nur dann Anwendung findet, wenn das Verwaltungsverfahren und das gerichtliche Verfahren den gleichen Streitgegenstand haben (Anm. 3 Abs. IV VV RVG).

 

VII. Wegfall der Regelung der Nrn. 2301, 2401 VV RVG

Da nach gefestigter Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (Urteil vom 20.04.1983 – 5a RKn 1/82; Urteil vom 12.12.1990 – 9a/9 RVs 13/89; Urteil vom 09.06.1999 – B 6 KA 76/97) die Kosten des Verwaltungsverfahrens grundsätzlich nicht erstattungsfähig sind, kann sich ein Leistungsträger nach § 15a RVG in keinem Fall auf eine Minderung der Geschäftsgebühr für das Widerspruchsverfahrens wegen Tätigwerdens des Rechtsanwalts im Ausgangsverfahren berufen. Der Gesetzgeber hat die Berücksichtigung der Vorbefassung des Rechtsanwalts im Verwaltungsverfahren durch den Ansatz eines geminderten Geührenrahmens im 1 KostMdG damit gerechtfertigt, dass die Arbeitserleichterung aufgrund der Vorbefassung mit der Streitsache in einem behördlichen Verfahren im anschließenden Verfahren (Synergieeffekt) berücksichtigt werden soll, die außergerichtliche Erledigung eines Verfahrens vor der Einleitung eines Rechtsbehelfsverfahren gefördert werden soll, der Eindruck vermieden werden soll, dass ein Rechtsanwalt ein gebührenrechtliches Interesse am Fortbetreiben des Verfahrens in die nächste Instanz hat und die die verbesserte Vergütung von verwaltungsrechtlichen Mandaten nach § 17 RVG berücksichtigt werden soll.

Im Entwurf ist nicht nachvollziehbar darlegt, weshalb diese Gesichtspunkte nicht mehr relevant sein sollen. Soweit der Entwurf auf Seite 413 ausführt „Im Hinblick darauf, dass die Fälle, in denen ein Rechtsanwalt für seinen Mandanten sowohl im Verwaltungsverfahren als auch im anschließenden Nachprüfungsverfahren tätig ist, die Ausnahme sind, sind die haushaltsmäßigen Auswirkungen insoweit als gering einzuschätzen“, ist dem Entwurf nicht zu entnehmen, auf welche rechtstatsächlichen Erhebungen diese Annahme gestützt wird. Zumindest in den Streitigkeiten nach dem SGB II kann aus der Praxis diese Annahme nicht bestätigt werden. Vielfach sind Rechtsanwälte schon im Ausgangsverfahren tätig, insbesondere wenn Gegenstand des Verfahrens die Aufhebung und Rückforderung von Leistungen oder eine Überprüfung nach § 44 SGB X ist.

Der maßgebliche Gebührenrahmen für das Widerspruchsverfahren steigt infolge dessen von 40 € – 260 € (150 €) auf 40 € - 520 € (280,00 €). Es ist voraussehbar, dass die Leistungsträger versuchen werden, den Gesichtspunkt der aus der Vorbefassung des Rechtsanwalts und des daraus erwachsenden Synergieeffektes bei der Beurteilung des Umfangs der Tätigkeit des Rechtsanwalts im Widerspruchsverfahren als gebührenmindernden Gesichtspunkt zu berücksichtigen. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (Urteil vom 01.07.2009 – B 4 AS 21/09 R) wird durch die Geschäftsgebühr im Widerspruchsverfahren das Betreiben der Geschäfte, die Information, die Teilnahme an Besprechungen, das Mitwirken bei der Gestaltung eines Vertrages abgegolten. Darunter fällt u. a. der Aufwand für Besprechung und Beratung, auch außerhalb der Kanzleiräume, das Lesen der Verwaltungsentscheidung, das Aktenstudium, das Anfertigen von Notizen ohne Erstellen von Ablichtungen, das Anfordern von Unterlagen beim Mandanten, deren Sichtung, die Rechtsprechungs- und Literaturrecherche, die Auseinandersetzung mit Rechtsprechung und Literatur, das Eingehen auf von dem Leistungsträger herangezogene Beweismittel, der Schriftverkehr mit dem Auftraggeber und der Gegenseite, also alle Tätigkeiten, die mangels entsprechender Gebührenvorschriften nicht durch eine besondere Gebühr vergütet werden. Ein Teil der Tätigkeit entfällt, wenn ein Rechtsanwalt schon im Ausgangsverfahren tätig gewesen ist. Mit einem erheblichen Anstieg der Streitigkeiten über die Höhe der Kosten eines isolierten Widerspruchsverfahrens nach § 63 SGB X ist zu rechnen.

 

VIII. Anrechnungsvorschrift bei mehreren Auftraggebern

Die Begrenzung des Anrechnungsbetrages auf 175,00 € führt beim Tätigwerden für mehrere Auftraggeber verbunden mit dem Anfall der Gebühr nach Nr. 1008 VV RVG zu einer deutlichen Erhöhung der Gebühren. Nach der Rechtsprechung kann bei einer Bedarfsgemeinschaft im SGB II zumindest bei Streitigkeiten über die Verteilung des Einkommens und Vermögens nach horizontaler Berechnungsmethode oder bei Streitigkeiten über die Kosten der Unterkunft und Heizung der Gebührentatbestand nach Nr. 1008 VV RVG anfallen (BSG Urteil v. 27.9.2011, B 4 AS 155/10 R) .

 

Rechtslage

Beabsichtigte Neuerung

Widerspruchsverfahren

76 – 494 (285)

Nr. 2401, 1008

95 – 1216 (655,50)

Nr. 2502, 1008

Klageverfahren

38 – 608 (323)

Nr. 3103, 1008

95 – 1045 (570)

abzüglich einer Gebühr bis 175,00

Nr. 3102, 1008

 

IX. Terminsgebühr – Neufassung der Vorbemerkung 3 Abs. 3 VV RVG

Nach überwiegender Auffassung in der Rechtsprechung zur bisherigen Rechtslage kann in sämtlichen Gerichtszweigen bislang das Mitwirken an einer Besprechung nur dann den Anfall einer Terminsgebühr auslösen, wenn die Durchführung einer mündlichen Verhandlung im Verfahren grundsätzlich vorgeschrieben oder ausnahmsweise ein gerichtlicher Termin anberaumt worden ist (BGH, Beschluss v. 1.2.2007, V ZB 11/06, NJW 2007 S. 1461; BAG, Beschluss v. 20.6.2006, 3 AZB 78/05, BAGE 118 S. 286 ; LSG NRW, Beschluss v. 22.12.2010, L 19 AS 1138/10 B; VGH Baden-Württemberg, Beschluss v. 31.10.2006, 3 S 1748/05, NJW 2007 S. 860; OVG NRW, Beschluss v. 15.06.2010, 13 E 382/10, AGS 2010 S. 543). Der Gebührentatbestand der sog. Besprechungsgebühr kann sowohl in Verfahren nach § 197a SGG als auch in Verfahren nach § 183 SGG anfallen. In der Vorbem. 3 Abs. 3 VV RVG wird der Begriff der «Terminsgebühr» einheitlich für die Gebührentatbestände der Nrn. 3104 und 3106 VV RVG definiert (Bay LSG, Beschluss v. 21.2.2011, L 15 SF 168/10 B E; LSG Hessen , Beschluss v. 20.4.2011, L 2 SF 311/09 E ).

Die beabsichtigte Neufassung der Vorbemerkung 3 Abs. 3 ist für die sozialgerichtlichen Verfahren von erheblicher Relevanz. Soweit der Entwurf vorsieht, dass der Anfall einer Termins- gebühr auch in Verfahren, in denen die Durchführung einer mündlichen Verhandlung nicht vorgeschrieben ist, durch eine Besprechung zwischen den Beteiligten, die auf das Vermeiden oder Erledigung des Verfahrens gerichtet ist, ausgelöst werden kann, hat dies zur Folge, dass auch in einstweiligen Rechtschutzverfahren nach § 86b SGG ein solche Gebühr nunmehr an- fallen kann. Dabei ist zu berücksichtigen, dass für den Anfall der Besprechungsgebühr genügt, dass der Rechtsanwalt nach der Erteilung des Prozessauftrags eine Besprechung mit dem Prozessgegner durchführt, die auf die Vermeidung eines Rechtsstreits oder nach der Anhängigkeit eines Rechtsstreits auf dessen Beendigung zielt (BGH, Beschluss v. 8.2.2007, IX ZR 215/05, FamRZ 2007 S. 721; Urteil v. 1.7.2010, IX ZR 198/09, NJW 2011 S. 530). Das Ergebnis der Besprechung ist für das Entstehen der sog. Besprechungsgebühr als Terminsgebühr ohne Bedeutung. Der Anfall der Besprechungsgebühr wäre auch von der Bewilligung von Prozesskostenhilfe umfasst.

Es ist noch nicht absehbar, welche Auswirkungen die Ausdehnung des Anwendungsbereichs der sog. Besprechungsgebühr auf das Verfahren nach § 86b SGG hat. Dabei ist auch zu bedenken, dass die Verfahren nach § 86b SGG überwiegend Streitigkeiten nach dem SGB II betreffen und dass Richter in diesen Verfahren auch telefonisch versuchen, eine Einigung zwischen den Beteiligten zu erreichen. Auch ein solches Telefonat löst eine Besprechungsgebühr aus, wenn das Telefonat nicht nur mit einem Beteiligten geführt werden und die Beteilig- ten die Bereitschaft erkennen lassen, in Überlegungen mit dem Ziel einer einvernehmlichen Beendigung des Verfahrens einzutreten (BGH, Beschluss v. 20.11.2006, II ZB 6/06, MDR 2007 S. 557, und v. 21.10.2009, IV ZB 27/09, NJW 2010 S. 381; a. A. LSG Hessen, Beschluss v. 20.04.2011, L 2 SF 311/09 E, wonach allein ein persönliches Gespräch eine Besprechungsgebühr auslösen kann).

Der Begründung des Referentenentwurfs ist nicht zu entnehmen, dass die Auswirkungen der Gesetzesänderung auf das sozialgerichtlichen Verfahren Berücksichtigung gefunden haben. Es wird allein auf Vorschriften im Mahnverfahren Bezug genommen.

 

X. Änderungen der Nrn. 3104 und 3106 VV RVG - fiktive Terminsgebühr

Die Beschränkung der fiktiven Terminsgebühr auf die Fälle, in denen entweder ein Rechtsanwalt die Durchführung einer mündlichen Verhandlung erzwingen kann oder ein angenommenes Anerkenntnis in Verfahren erfolgt, in denen die Durchführung einer mündlichen Verhandlung vorgeschrieben ist, erscheint sinnvoll und vollzieht die überwiegende Auffassung in der Rechtsprechung nach.

Soweit der Entwurf vorsieht, den Wortlaut der Vorschrift der Nr. 3106 VV RVG dem Wortlaut der Nr. 3104 VV RVG insoweit anzugleichen, als die Wörter „oder in einem solchen Verfahren ein schriftlicher Vergleich geschlossen“ hinzugefügt werden, stellt sich zunächst die Frage, ob ein sozialgerichtliches Verfahren überhaupt durch einen schriftlichen Vergleich beendet werden kann. Ein außergerichtlicher Vergleich bindet zwar die Beteiligten materiell-rechtlich, er beendet aber nicht unmittelbar ein gerichtliches Verfahren (vgl. BSG, Urteil v. 28.11.2002, B 7 AL 26/02 R), vielmehr muss eine zusätzlich eine Prozesshandlung hinzutreten. Die Gebühr nach Nr. 3104 Nr. 1 Alt. 3 VV RVG, der für die Gebühren In Verfahren nach § 197a maßgeblich ist, fällt nicht an, wenn die Beteiligten einen außergerichtlichen Vergleich schließen und anschließend das gerichtliche Verfahren durch eine (einseitige oder beidseitige) Erledigungserklärung beendet wird (VG Berlin, Beschl. v. 23.6.2008, 14 KE 227.06).

Nach dem Gebührentatbestand der Nr. 3104 Nr. 1 Alt. 3 VV RVGfällt eine (fiktive) Terminsgebühr nur bei Abschluss eines gerichtlichen Vergleichs im schriftlichen Verfahren an (vgl. OLG Sachsen-Anhalt Beschluss v. 25.6.2010, 2 W 59/19; JurBüro 2010 S. 644; OLG Stuttgart, Beschluss v. 18.02.2009, 5 W 81/08, AGS 2009 S. 316 ), wenn die Durchführung einer mündlichen Verhandlung vorgeschrieben ist. Dieser Gebührentatbestand findet in Verfahren nach § 197a nur dann Anwendung, wenn der Abschluss eines Prozessvergleichs entsprechend der Bestimmung des § 278 Abs. 6 ZPO im sozialgerichtlichen Verfahren für zulässig erachtet wird (d.h. durch Beschluss der Inhalt eines außergerichtlichen Vergleichs festgestellt wird). Wenn dies verneint wird, ist der Gebührentatbestand nicht einschlägig (vgl. LSG Sachsen, Beschluss v. 9.12.2010, L 6 AS 438/10 B KO).

Ob die Vorschrift des § 278 Abs. 6 ZPO im sozialgerichtlichen Verfahren nach § 202 Abs. 1 SGG entsprechend anwendbar ist, ist in Literatur (bejahend Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG 9. Auflage, § 202 Rz. 3) und Rechtsprechung umstritten (vgl. LSG Sachsen, Beschluss v. 9.12.2010, L 6 AS 438/10 B KO). Während VwGO und FGO Vorschriften über die Beendigung des Verfahrens durch einen schriftlichen Vergleich, dessen Inhalt durch einen Beschluss des Gerichts, der Vollstreckungstitel wird, entsprechend der Bestimmung des § 278 Abs. 6 ZPO festgesetzt wird, fehlt eine solche ausdrückliche Bestimmung im SGG. Falls der Entwurf die entsprechende Anwendbarkeit des § 278 Abs. 6 ZPO bejahend zugrunde legt, sollte dies im Hinblick auf den Meinungsstreit zumindest aus der Gesetzesbegründung ersichtlich sein.

 

XI. Änderung der Gebührenhöhe

Der Entwurf sieht vor, dass der Gebührenrahmen der Terminsgebühr dem der Verfahrensgebühr entspricht. Es handelt sich nicht nur um eine lineare Erhöhung. Die Mittelgebühr erhöht sich von 200,00 € auf 280,00 €, also um ca. 40 %.

Ferner sieht der Entwurf vor, dass im Fall der fiktiven Terminsgebühr die Gebühr 90% der Verfahrensgebühr entspricht. Diese Regelung ist gut praktikabel. Jedoch ist zu berücksichtigen, dass durch die Änderung der Kriterien des § 14 RVG nicht auszuschließen ist, dass sich die Verfahrensgebühr erhöhen wird und somit auch die fiktive Terminsgebühr.

 

XII. Bestimmung der Gebührenhöhe eines beigeordneten Rechtsanwälte im Festsetzungsverfahren nach § 55 RVG - (§ 48 Abs. 4 RVG-Entwurf)

Inwieweit der vom Gesetzgeber angenommene Änderungsbedarf noch besteht, ist fraglich. In der neueren obergerichtlichen Rechtsprechung ist anerkannt, das im Fall der Festsetzung der zu erstattenden Verfahrensgebühr nach § 55 RVG an einen beigeordneten Rechtsanwalt bei der Beurteilung des Umfangs der anwaltlichen Tätigkeit in der Regel der im gesamten Verfahren aufgewendete Arbeits- und Zeitaufwand, nicht nur der Arbeits- und Zeitaufwand nach dem Wirksamwerden der Beiordnung, zu würdigen ist (vgl. hierzu Bay LSG, Beschluss v. 22.7.2010, L 15 SF 303/09 B E, LSG Sachsen, Beschluss v. 5.5.2011, L 7 SO 32/10 B; LSG Thüringen, Beschluss v. 18.3.2011, L 6 SF 1418/10 B; LSG NRW, Beschluss v. 24..8.2008, L 19 B 21/08 AS; a. A. LSG Schleswig-Holstein, Beschluss v. 17.07.2008, L 1 B 127/08 SK; LSG Hessen, Beschluss v. 13.12.2011, L 2 AS 363/11 B).

Des weiteren ist zweifelhaft, ob mit der Gesetzesänderung eine Klärung der Rechtslage herbeigeführt wird. Mit der Verfahrensgebühr wird jede prozessuale Tätigkeit eines Rechtsanwalts abgegolten, für die das RVG keine sonstige Gebühr vorsieht. Sie entsteht für das Betreiben des Geschäfts, einschließlich der Information. Damit wird u.a. die Prüfung der Schlüssigkeit der Klage oder des Rechtsmittels durch den Rechtsanwalt anhand der Rechtsprechung und der Literatur, die im Zusammenhang mit dem gerichtlichen Verfahren notwendigen Besprechungen des Rechtsanwalts mit dem Auftraggeber, Dritten, dem Gericht und Sachverständigen, den (umfangreichen) Schriftwechsel mit dem Auftraggeber, Dritten, Behörden und dem Gericht, der sich auf den Prozessstoff bezieht, die Mitwirkung bei der Auswahl und der Beschaffung von Beweismitteln, die Sammlung und den Vortrag des aus der Sicht des Rechtsanwalts rechtlich relevanten Stoffs, das Anbieten von Beweismitteln (BT-Drs. 15/1971 S. 210) sowie die Abgabe von Prozesserklärungen, einschließlich verfahrensbeendender Erklärungen abgegolten. Damit umfasst die Verfahrensgebühr auch die vorprozessuale Tätigkeit des Rechtsanwalts nach Erteilung des Klageauftrags.

In Verfahren, in denen streitwertgebundene Wertgebühren anfallen, wie z. B Verfahren nach § 197a SGG, hat der beigeordnete Rechtsanwalt einen Anspruch auf die Übernahme der vollen Verfahrensgebühr, wenn er nach dem Wirksamwerden der Beiordnung den Tatbestand der Verfahrensgebühr, z.B. durch Fertigen eines Schriftsatzes, nochmals erfüllt.

Beim Anfall von Betragsrahmengebühren ist u. a. der Umfang der anwaltlichen Tätigkeit als quantitatives Element zu würdigen. § 48 Abs. 4 RVG-Entwurf ordnet nunmehr an, dass sich die Beiordnung auf die Tätigkeit im vorangegangenen Prozesskostenhilfeverfahren erstreckt. Damit ist zwar geklärt, dass auch die Tätigkeit des Rechtsanwalts im Prozesskostenhilfeverfahren, also ab PKH-Antragstellung bei der Bewertung des Umfangs der anwaltlichen Tätigkeit im Festsetzungsverfahren zu berücksichtigen ist. Offen bleibt aber, ob die Tätigkeit zwischen der Auftragserteilung zur Klageerhebung und der PKH-Antragstellung bei der Bewertung des Umfangs der anwaltlichen Tätigkeit erfasst werden soll oder nicht. Falls dies nicht der Fall ist, würde sich die Frage der Kürzung der Gebühren wieder stellen. Zur Zeit nimmt die h. M. in der Rechtsprechung (Bay LSG, Beschluss v. 22.7.2010, L 15 SF 303/09 B E, LSG Sachsen, Beschluss v. 5.5.2011, L 7 SO 32/10 B; LSG Thüringen, Beschluss v. 18.3.2011, L 6 SF 1418/10 B; LSG NRW, Beschluss v. 24..8.2008, L 19 B 21/08 AS; a. A. LSG Schleswig-Holstein, Beschluss v. 17.07.2008, L 1 B 127/08 SK; LSG Hessen, Beschluss v. 13.12.2011, L 2 AS 363/11 B) an, dass wie bei den streitwertgebundenen Wertgebühren, in der Regel die gesamte Tätigkeit des Rechtsanwalts, die mit der Verfahrensgebühr abgegolten wird, bei der Beurteilung des Umfangs der anwaltlichen Tätigkeit eines beigeordneten Rechtsanwalts zu berücksichtigen ist.

Des weiteren scheint es so, als gehe der Entwurf bei der Verwendung des Begriffs „vorangegangenes Verfahren über die Prozesskostenhilfe“ von der Vorstellung aus, dass es im sozialgerichtlichen Verfahren wie im zivilrechtlichen Verfahren üblich sei, vor der Klageerhebung zunächst den Antrag auf Prozesskostenhilfe zu stellen und erst nach der Bewilligung von Pro-zesskostenhilfe Klage zu erheben. Dies entspricht aber nicht der Praxis. Diese Vorgehensweise ist im sozialgerichtlichen Verfahren außerordentlich selten, sie sollte nicht durch gesetzliche Regelung propagiert werden, da sie zu einer zusätzlichen Belastung der Gerichte führen würde.

 

XIII. Zuständigkeit als Einzelrichter

Unter den Landessozialgerichten ist umstritten, ob die Vorschriften des GKG und RVG, wo- nach der Berichterstatter als Einzelrichter für eine Beschwerdeentscheidung zuständig ist, im sozialgerichtlichen Verfahren Anwendung findet ( vgl. zu § 66 GKG LSG NRW, Beschlüsse v. 24.2.2006, L 10 B 21/05 KA v. 30.4.2008, L 16 B 8/08 KR; u. v. 31.8.2009, L 8 B 11/09 R; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss. v. 15.9.2008, L 24 B 182/08 KR; LSG Baden- Württemberg, Beschluss v. 29.1.2009, L 10 R 5795/08 W-B; a.A.: LSG NRW, Beschluss v. 1.4.2009, L 10 B 42/08 P, und v. 22.6.2009, L 17 B 10/09 U; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss v. 25.3.2009, L 1 KR 36/09 B; Sächsisches LSG, 9.6.2008, L 1 B 351/07 KR; LSG Baden-Württemberg, 16.12.2008, L 10 R 5747/08 W-B; Jansen, SGG, § 12 Rn. 3a). Im Hinblick darauf, dass geklärt sein sollte, wer gesetzlicher Richter ist, ist eine klarstellende Regelung des Gesetzgebers für das sozialgerichtliche Verfahren wünschenswert.