Nr. 01/14

Stellungnahme des BDS zur Evaluierung des Gesetzes zum Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungen in der Arbeits- und Sozialgerichtsbarkeit

  1. Der BDS hat in seiner verbandpolitischen Tätigkeit keine eigenen Erhebungen über den Umfang, die Arbeitsintensität und die Ergebnisse der in der Sozialgerichtsbarkeit geführten Verfahren bei überlanger Verfahrensdauer vorgenommen. Rückmeldungen innerhalb des Verbandes zeigen ein unterschiedliches Bild in den Ländern auf. Während sich bei einigen Landessozialgerichten die Zahl der Verfahren in Grenzen hält, fallen bei anderen (Nordrhein-Westfalen) Entschädigungsklagen in ganz erheblicher Zahl an. In jedem Fall geht von den Entschädigungsverfahren ein nicht zu unterschätzender zusätzlicher Arbeitsanfall aus und verlangt einen entsprechenden höheren Personalbedarf. Wenn dies - wie flächendeckend der Fall - nicht durch die Zuweisung neuer personeller Ressourcen seitens der Landesjustizverwaltungen ausgeglichen wird, sind die Präsidien gezwungen, intern richterliches Personal zu verlagern. Das wirkt sich naturgemäß zu Ungunsten der übrigen Spruchkörper und der Beteiligten in den dort zu entscheidenden Verfahren in einer insgesamt hoch belasteten Gerichtsbarkeit aus. Entgegen der Gesetzesbegründung (BT- Drucks. 17/3802, S. 2, 3) können die zusätzlich anfallenden Verfahren mit den vorhandenen Personalkapazitäten nicht bewältigt werden. Dies sollte innerhalb der Evaluierung deutlich gemacht werden.

  2. Von den prozessualen Möglichkeiten der §§ 198 ff GVG geht ein nicht zu unterschätzender Anreiz auf bei Gericht bereits namentlich bekannte Klägerinnen und Kläger aus. Diese klagen zumeist im Bereich der SGB II und SGB XII und sind bereits durch eine Vielzahl von Anträgen/Klagen bei Gericht aufgefallen, denen nicht immer ein nachvollziehbares oder letztlich begründetes Rechtsbegehren zugrunde liegt. In letzter Zeit scheint der Anzahl von Entschädigungsklagen dieses Klägerkreises anzusteigen. Teilweise werden diese Entschädigungsklagen noch mit Nebenstreitigkeiten (Befangenheitsanträge, Anhörungsrügen, Erinnerungen auf Kostenrechnungen usw.) und Entschädigungsklagen wegen überlanger Entschädigungsklagen versehen. Bereits im Vorfeld des Gesetzes vom 2. Dezember 2011 ist die Notwendigkeit der Verhinderung von Missbräuchen der Entschädigungsklagen erkannt worden (vgl. nur Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz bei überlangen Verfahren, 2013, Einf. Rn. 306, 325 ff). Der Gesetzgeber sollte das Ansteigen von Klagen des oben beschriebenen Personenkreises daher aufmerksam beobachten und prüfen, welche weiteren Möglichkeiten bestehen, dem entgegenzuwirken.

  3. Als wesentliches Element der Missbrauchsabwehr ist die Steuerungsfunktion durch Gerichtskosten (§ 197a Abs. 1 Satz 1 SGG) und Gerichtskostenvorschüsse (§§ 12a, 12 Abs. 1 Satz 1 GKG), die ansonsten in Verfahren nach § 183 SGG nicht anfallen würden, erkannt worden. Als Problem der Praxis zeigt sich, wie damit umzugehen ist, wenn Kläger den angeforderten Kostenvorschuss nicht bezahlen. §§ 12a, 12 Abs. 1 Satz 1 GKG schreiben vor, dass die Klageschrift bis dahin nicht an den Beklagten zuzustellen ist. Im zivilrechtlichen Verfahren wird eine bei Gericht eingegangene Klage bei Einreichung zunächst nur anhängig und erst mit Zustellung der Klageschrift rechtshängig (§§ 253 Abs. 1, 261 Abs. 1 Zivilprozessordnung - ZPO). Letztere erfolgt grundsätzlich erst nach Entrichtung der Gerichtsgebühr (§ 12 Abs. 1 GKG). Demgegenüber ist im sozialgerichtlichen Verfahren grundsätzlich jede Klage bereits mit ihrem Eingang bei Gericht rechtshängig (§§ 90, 94 SGG). Welche Rechtsfolgen sich für die Rechtshängigkeit ergeben, wenn der Kostenvorschuss für eine Entschädigungsklage - auch nach gerichtlicher Fristsetzung - nicht einbezahlt wird, ist noch nicht geklärt. Das Entschädigungsklageverfahren trotzdem durchzuführen widerspricht der klaren Intention des Gesetzgebers und ist auch im Hinblick auf den eingangs beschriebenen teilweise problematischen Kreis an Klägern nicht sachgerecht. Für die Rechtsprechung eröffnen sich einige Wege, die aber allesamt mit rechtlichen Unwägbarkeiten versehen sind. Denkbar wäre es, die Regelungen über die Rechtshängigkeit sozialgerichtlicher Klagen zu modifizieren (aufschiebend bedingte Rechtshängigkeit, Entfallen der Rechtshängigkeit nach Fristablauf ohne Zahlung). Teilweise wird die Vorschrift über die Klagerücknahmefiktion nach § 102 Abs 2 S 1 SGG entsprechend herangezogen (s. etwa LSG Niedersachsen-Bremen, Urteile vom 29.08.2013, L 10 SF 12/13 EK KA WA und L 10 SF 13/13 EK KA WA). Eine höchstrichterliche Entscheidung, ob dieser Weg tragfähig ist, steht aber noch aus. Die Revisionen gegen die beiden Urteile des LSG Niedersachsen-Bremen - B 10 ÜG 6/13 R bzw. B 10 ÜG 7/13 R - sind offenbar erledigt worden, ohne dass es zu Entscheidungen gekommen ist. In der finanzgerichtlichen Rechtsprechung, in der sich strukturell die gleichen Probleme ergeben, scheint die Zustellung an den Prozessgegner nicht zu erfolgen bis der Kostenvorschuss einbezahlt worden ist (vgl. BFH, Beschluss vom 12. Juni 2013, X K 2/13, BFH/NV 2013, 1442), wobei hier unklar ist, wie die Auswirkungen auf die Rechtshängigkeit gesehen werden. Eine Lösung allein über die Regelungen zur Aktenführung und statistischen Behandlung der Verfahren scheidet aus. Auch dort stellt sich die Frage, wie eine Entschädigungsklage, für die kein Kostenvorschuss erbracht worden ist, zu behandeln ist (mögliche Anwendung der § 6 Nr. 3 bzw. Nr. 4 der Anordnung über die Erhebung von statistischen Daten in der Sozialgerichtsbarkeit vom 01.01.2012?). Nicht gelöst ist damit aber die Frage der Rechtshängigkeit. Auch ein nach der Aktenordnung ausgetragenes, rechtlich aber nicht beendetes Verfahren dauert an. Dies birgt das Risiko, dass allein deswegen eine Entschädigungsklage erhoben oder aber Rechtsschutz vor dem EMRG gesucht wird. Aus Sicht des BDS sollte sehr aufmerksam beobachtet werden, ob in der höchstrichterlichen Rechtsprechung eine zufriedenstellende Lösung gefunden wird. Die gesetzgeberische Wertung des § 12a GKG, wonach Entschädigungsklagen nicht ohne vorangehende Zahlung des Kostenvorschusses geführt werden, muss dabei gewahrt bleiben. Gelänge dies im Rahmen der derzeitigen Gesetzeslage nicht, wäre das Handeln des Gesetzgebers unumgänglich, wobei gegenwärtig noch nicht übersehen werden kann, auf welchem Weg dies zu geschehen hat. Denkbar wäre etwa § 102 Abs. 2 Satz 1 SGG oder § 94 SGG zu ergänzen.

  4. Vor dem Hintergrund der eingangs beschriebenen zusätzlichen Belastungen sollten schon heute verfahrensrechtliche Möglichkeiten geschaffen werden, unzulässige oder offensichtlich unbegründete Entschädigungsklagen effektiver zu bearbeiten. Die Landessozialgerichte haben für die Entschädigungsklagen das erstinstanzliche Verfahrensrecht anzuwenden (§ 201 Abs. 2 Satz 1 GVG). Eine Entscheidung durch Gerichtsbescheid kommt nach der Gesetzesbegründung (BT- Drucks. 17/3802, S. 25) eher nicht in Frage, die Übertragung auf den Berichterstatter ebenfalls nicht (s. auch § 201 Abs. 2 Satz 2 GVG). Es sind bei der doch nicht unerheblichen Zahl von Entschädigungsklagen bisher auch keine Gerichtsbescheide ergangen. Daher sollte eine im Gesetzgebungsverfahren zum Gesetz vom 2. Dezember 2011 schon einmal erwogene, aber letztlich nicht umgesetzte Regelung (s. BR-Drucks. 540/10 [Beschluss], S. 7 zu Nr. 7; Gegenäußerung der Bundesregierung, BT-Drucks. 17/3802, S. 41 zu Nr. 7) nochmals geprüft werden. Danach ist dem Gericht die Möglichkeit einzuräumen, eine offensichtlich unbegründete Klage durch Beschluss entsprechend § 153 Abs. 4 SGG zurückzuweisen und eine unzulässige Klage entsprechend § 158 SGG zu verwerfen.

Dr. Steffen Roller

Richter am Sozialgericht (sV), Vorstandsmitglied des BDS