16.06.2024
Stellungnahme des Bundes Deutscher Sozialrichter (BDS) zum Diskussionsentwurf einer Behördenaktenübermittlungsverordnung
Die Einbeziehung der Behördenakten in die elektronische Gerichtsakte ist für kaum eine Gerichtsbarkeit so bedeutend wie für die Sozialgerichtsbarkeit. Die Sozialgerichte legen ihren Entscheidungen oft sehr umfangreiche, teilweise viele Jahre zurückreichende Akten der Sozialverwaltung zugrunde. Nicht selten müssen in einem Gerichtsverfahren Akten mehrerer Behörden beigezogen werden. Der BDS nutzt daher die Gelegenheit, die ihm zur Verfügung stehenden Erfahrungen der gerichtlichen Praxis in die Diskussion einzubringen.
1) Schon zu Beginn der Einführung der elektronischen Gerichtsakte haben wir darauf hingewiesen, dass für die Sozialgerichtsbarkeit die Einbeziehung der Behördenakten ein besonders sensibel zu handhabendes Problemfeld darstellt. Verwiesen wird auf das Positionspapier des BDS von 2013 (!), einsehbar unter https://www.bunddeutschersozialrichter.drb.de/positionen/e-justice
Von daher verwundert es, dass sich der Gesetzgeber erst heute der Aufgabe zuwendet, rechtliche Grundlagen für die elektronische Übermittlung der Behördenakten zu schaffen. Mittlerweile ist die elektronische Gerichtsakte in den meisten Ländern eingeführt und die Sozialgerichtsbarkeit arbeitet damit teilweise schon seit mehreren Jahren. Die von uns bereits früh aufgezeigten Probleme bei der Einbeziehung der Behördenakten haben sich erwartungsgemäß gezeigt. Mangels gesetzlicher Vorgaben behilft sich die gerichtliche Praxis mit mehr oder weniger brauchbaren Lösungen auf der Basis von Absprachen mit unterschiedlichen Sozialleistungsträgern. Behördenakten werden elektronisch über das xJustiz-Format eingereicht, als Gesamt-PDF, als Papierakte und auch als Papierausdruck der eigenen, mittlerweile bereits elektronisch geführten Akte.
2) Der Entwurf der BehAktÜbV muss zwei Gesichtspunkten gerecht werden:
Zum einen muss er sicherstellen, dass die der Verwaltungsentscheidung zugrundeliegende Akten vollständig und inhaltlich zutreffend übermittelt werden. Die Behördenakten sind Beweismittel.
Zum anderen müssen die so übermittelte Behördenakten für die Gerichte möglichst einfach zu handhaben sein, sie müssen also „gut lesbar“ sein. Sozialrichter müssen bei der Durchsicht der Behördenakten erhebliche Textmengen bewältigen. Für das Gericht sollten die Vorteile der elektronischen Gerichtsakte, etwa die Durchsuchbarkeit nach Stichworten oder das Kopieren von Textpassagen, möglichst auch für die Behördenakte nutzbar sein. Die Anforderungen an die Handhabbarkeit gelten nicht nur für das Gericht, sondern auch für die Beteiligten, die regelmäßig Einsicht in Behördenakten nehmen und auch medizinische Sachverständige, denen die Behördenakten als Grundlage ihrer Begutachtung dienen.
Diese Ziele stehen teilweise in einem Zielkonflikt, zu dessen Lösung auf Folgendes hingewiesen werden kann:
Die Justiz bemüht sich seit Jahren das xJustiz-Format als Standard zu etablieren. Dieser Weg sollte grundsätzlich nicht ohne Not aufgegeben werden.
Die Erfahrungen der gerichtlichen Praxis zeigen, dass bewusst manipulierte Behördenakten nicht vorkommen. Soweit sich Behördenakten – unabhängig ob in Papier oder als elektronische Dokumente geführt – in Einzelfällen als versehentlich unvollständig zeigten, sind solche Lücken in aller Regel aufgefallen und konnten durch Nachfragen bei den Behörden geschlossen werden (Gädeke in: Ory/Weth, jurisPK-ERV Band 3, 2. Aufl., § 104 SGG, Stand: 24.03.2023, Rn. 25).
Ein Urkundenbeweis, bei dem die korrekte Unterschrift unter ein Dokument bzw. Signatur einer Datei bedeutsam wird, findet sich höchst selten. Das wird in der Massenverwaltung, mit der die Sozialgerichtsbarkeit weitgehend zu tun hat, auch von keinem Beteiligten problematisiert. Die Sozialgerichte sind auch durch den Amtsermittlungsgrundsatz (§ 103 SGG) nicht gehalten, ohne nähere Hinweise in Zweifel zu ziehen, dass die vorgelegten Behördenakten den Ablauf des Verwaltungsverfahrens zutreffend wiedergeben. Die (richtigerweise) in der Literatur gestellten, auch formal hohen Anforderungen an die „Authentizität“ elektronischer Dokumente („Grundsatz der Formtreue“ vgl. H. Müller in: Ory/Weth, jurisPK-ERV Band 3, 2. Aufl., § 118 SGG, Stand: 20.02.2024, Rn. 67) spielen für die Behördenakten keine Rolle. Sie sind in aller Regel die unstreitige Tatsachengrundlage, auf der die gerichtlichen Ermittlungen aufbauen dürfen.
Der Sozialgerichtsprozess ist durch ein klägerfreundliches, möglichst einfaches und wenig formales Verfahrensrecht geprägt. Hohe formale Anforderungen an die Einbeziehung der Behördenakten in das Gerichtsverfahren eröffnen die Gefahr von Verfahrensfehlern, die etwa im Revisionsverfahren instrumentalisiert werden könnten. Das ist einer an der materiellen Gerechtigkeit orientierten gerichtlichen Entscheidung nicht förderlich.
Dort wo die elektronische Gerichtsakte bereits verwendet wird, wird vor allem (trotz teilweise gegenteiliger Beteuerung der Justizverwaltung) eine unzureichende Performance des Gerichtsaktensystems beklagt. Dies gilt auch für den Umgang mit elektronisch übermittelten Behördenakten. Ob sich das xJustiz-Format gut handhaben lässt, wird in der Praxis unterschiedlich beurteilt. Zumindest teilweise zeigt sich, dass es sich leichter mit durchsuchbaren Gesamt-pdf-Dateien arbeiten lässt. Die Metadaten in den Behördenakten sind für das Gericht oft unklar und daher wenig zu gebrauchen. Der Richter ist im Regelfall gehalten, die Behördenakten vollständig durchzulesen, selbst Metadaten zu vergeben oder sich einen Aktenspiegel zu fertigen.
Große Probleme bereiten Behördenakten, die nicht chronologisch geführt sind oder nicht wenigstens eine Systematik erhalten, welche den Ablauf des Verwaltungsverfahrens leicht nachvollziehbar machen.
3) Bei einer Gesamtbetrachtung sollte die Etablierung des xJustiz-Formats weiter vorangetrieben werden. Zugleich erscheint zumindest für eine Übergangszeit und für den „Normalfall“ des sozialgerichtlichen Verfahrens die Übermittlung der Behördenakten in einer einfacheren, die Performance des elektronischen Gerichtsaktensystems wenig belastenden Form ausreichend. Die Übermittlung von Signaturdateien, vielleicht sogar von Meta-Daten ist aus Beweisgründen hilfreich, aber nur, wenn sie die Handhabbarkeit der Akte nicht beeinträchtigt. In den seltenen Fällen, in denen sie beweisrechtlich erforderlich sind, sollte die Möglichkeit des Gerichts zur Anforderung des Original-Formats durch die Verordnung nicht eingeschränkt werden. Dies würde § 104 Satz 5 und 6 SGG entsprechen, soweit sich die Regelung auf die bei der Behörde elektronisch geführten Akten bezieht.
Die so übermittelten Behördenakten müsste allerdings die aufgezeigten Anforderungen an die Nachvollziehbarkeit der Chronologie des Verwaltungsverfahrens erfüllen. Sie müssten außerdem digital durchsuchbar sein.
4) Von einer bloßen „Soll-Regelung“ ist abzuraten. Sie ist ersichtlich der Versuch, einerseits hohe Standards aufzustellen und andererseits den Druck auf Behörden nicht zu groß werden zu lassen, da sich die Regelung sonst politisch nicht durchsetzen ließe oder in der Praxis ignoriert würde. Die Anforderungen sollten für die Behörden aber faktisch durchführbar sein. Eine längere Übergangsfrist einzuräumen, erscheint nur bedingt als brauchbare Lösung. Sie verleitet dazu, die notwendige Umsetzung aufzuschieben, statt beherzt unmittelbar anzugehen.
5) Zu Einzelheiten der vorgeschlagenen Regelung:
a) § 2 Abs. 1: Die Regelung geht über § 104 Satz 5 und 6 SGG hinaus, der es ausreichen lässt, dass bei elektronisch geführten Behördenakten ein Papierausdruck übersandt wird, wenn das Gericht nichts anderes anfordert. Das erscheint aus Gründen der effizienteren Bearbeitung durch die Gerichte sachgerecht. Doch ist wohl fraglich, ob die Ermächtigungsgrundlage des § 65b Abs. 7 SGG dies abdeckt.
Erwägenswert wäre es sogar, als Papierakten geführte Behördenakten einzubeziehen und die Behörden zu verpflichten, von diesen Abschriften in elektronischer Form herzustellen und elektronisch zu übermitteln (nach § 104 Satz 6 SGG allerdings mit qualifizierter elektronischer Signatur). Allerdings sind Papierakten in der Praxis nur noch selten anzutreffen, da die Sozialleistungsträger auch alte Aktenvorgänge in Papier einscannen und damit elektronisch führen.
b) § 2 Abs. 2: Ob § 65a SGG auf die Behördenakten Anwendung finden, ist streitig (bejahend Stäbler in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 2. Aufl., § 65a SGG, Stand: 05.02.2024, Rn. 21 und Littmann in: Berchtold, SGG, 6. Aufl. 2021, § 65a Rn. 5; a.A. H. Müller in: Ory/Weth, jurisPK-ERV Band 3, 2. Aufl., § 65a SGG, Stand: 13.05.2024, Rn. 46 und Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Schmidt, SGG, 14. Aufl. 2023, 65a Rn. 6a). Der „Mehrwert“ einer neuen differenzierenden Regelung erscheint hier fraglich, anstelle für Behördenakten (zumindest klarstellend) insgesamt auf § 65a SGG zu verweisen.
c) § 2 Abs. 3: Solange die Performance der E-Akten-Systeme der Justiz nicht ausreichend ist, könnte auf die Übermittlung von Signaturdateien vollständig verzichtet werden. Jedenfalls sollte die Vorgabe durch den Verordnungsgeber erfolgen und nicht der Entscheidung der Behörde überlassen werden. In der Massenverwaltung, welche das sozialgerichtliche Verfahren prägt, sind Behörden auf eine einheitliche Handhabung ausgerichtet und kaum bereit, im Einzelfall zu differenzieren. Im Regelfall dürfte es ausreichen, die Übermittlung von Signaturdateien auf Fälle zu beschränken, in denen diese vom Gericht gesondert angefordert werden.
d) § 2 Abs. 4, § 3: Hinsichtlich der technischen Anforderungen an das Format der Übertragung im xJustiz-Format verweise ich auf die Ausführungen von H. Müller (https://ervjustiz.de/diskussionsentwurf-dem-bmj-zu-einer-behoerdenaktenuebermittlungsverordnung#more-2198). Die Regelung muss zwingend ausgestattet sein.
e) § 4: Auch hier wird zunächst auf die genannten Ausführungen von H. Müller verwiesen. Abweichend hierzu wird die Regelung nicht als überflüssig angesehen. Ansonsten könnte eine durch § 2 Abs. 1 vorgenommene Verengung der prozessualen Regelungen über die Vorlage von Beweismitteln, sollten diese Behördenakten sein, angenommen werden. Auf die Möglichkeit von Ersatzmaßnahmen in Ausnahmefällen wird man nicht verzichten können.
f) § 5: Wie ausgeführt, erscheint eine längere Übergangsfrist wenig hilfreich.
Prof. Dr. Steffen Roller
Direktor des Sozialgerichts
Vorsitzender