Nr. 03/12

Stellungnahme des BDS zum Antrag der Fraktionen der SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN "Rentenzahlungen für Beschäftigungen in einem Ghetto rückwirkend ab 1997 ermöglichen"

Der BDS äußert sich zu verfahrensrechtlichen und prozessrechtlichen Fragen im Zuständigkeitsbereich der Sozialgerichtsbarkeit. Er nimmt zu Fragen des materiellen Sozialrechts und zu sozialpolitischen Fragen nur insoweit Stellung, als diese eng mit verfahrensrechtlichen und prozessrechtlichen Fragen verknüpft sind. Dies ist unserer Meinung nach hier der Fall.

Aus Sicht des BDS dürfte ein erhebliches allgemeinpolitisches Interesse daran bestehen, eine Gleichbehandlung der überlebenden Ghettoarbeiter möglichst bald herbeizuführen, unabhängig davon, ob sie in Ansehung der bisherigen Verwaltungspraxis und der Rechtsprechung zur beitragspflichtigen Beschäftigung in der gesetzlichen Rentenversicherung ihre Rentenanträge nach dem ZRBG nicht weiterverfolgt oder Rechtsbehelfe und Rechtsmittel zurückgenommen haben, oder ob sie die Rentenanträge aufrecht erhalten haben. Soweit Personen aus dieser Gruppe erst nach dem 30.06.2003 erneut Anträge auf Rente gestellt haben, gelten ihre Anträge nicht gemäß § 3 Abs. 1 ZRBG als am 18.06.1997 gestellt. Stattdessen schreibt § 44 Abs. 4 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) lediglich eine Rückwirkung von vier Jahren vor. Die Änderung der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts hin zu den Urteilen vom 02. und 03.06.2009 (B 13 R 139/09 R, BSGE 103, 201; B 13 R 81/08 R, BSGE 103, 190 = NJW 2010,1224 sowie B 5 R 26/08 R, BSGE 103, 220), mit denen das Revisionsgericht für Ghettobeschäftigungen erstmals vom Typus des versicherungsrechtlichen Beschäftigungsverhältnisses abgewichen ist, um damit dem Interesse an einer rechtspolitisch befriedigenden Lösung Rechnung zu tragen, war jedoch für diese Betroffenen zuvor nicht absehbar. Betroffen sind insbesondere auch zahlreiche frühere Ghettoarbeiter, deren Rentenverfahren nach dem 03.07.2009 von Amts wegen wieder aufgenommen wurden. In diesen Fällen muss nach geltendem Recht und nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts in den Urteilen vom 07. und 08.02.2012 (B 13 R 40/11 R und B 5 R 38/11 R) ein Rentenbeginn am 01.01.2005 zugrunde gelegt werden.

Aus unserer Sicht sollte der vorgeschlagenen Aufstockung der Anerkennungsleistung nach der Anerkennungsrichtlinie der Vorzug gegeben werden, da diese Lösung am besten geeignet ist, weitere ggf. zeitaufwändige Gerichtsverfahren zu vermeiden und so die zügige Auszahlung der Nachzahlungsbeträge zu gewährleisten. Angesichts des hohen Alters der Betroffenen sollten die Nachzahlungen zeitnah erfolgen. Dies ist über eine entschädigungsrechtlichen Grundsätzen folgende Lösung eher zu erreichen als über eine Nachbewilligung von Rente. Eine pauschalierte Einmalzahlung, die an der Höhe des Zahlbetrages der ab einem späteren Zeitpunkt bewilligten Rente und an der Dauer des Nachzahlungszeitraumes orientiert sein sollte, würde gewährleisten, dass die Leistung wesentlich schneller erfolgen könnte. Bei einer Neuberechnung der Rente aufgrund einer Ausnahmeregelung zu § 44 Abs. 4 SGB X könnten sich dagegen verschiedenartige, bisher noch nicht vollständig absehbare Streitfragen ergeben, die in einer nicht zu unterschätzenden Anzahl von Fällen voraussichtlich erst zeitaufwändig in Gerichtsverfahren geklärt werden müssten. Das Bundessozialgericht hat in seinen Urteilen vom 07. und 08.02.2012, die sich mit der rückwirkenden Rentenbewilligung befassen, beispielhaft auf die Auswirkungen der Rentenbewilligung auf den Zugangsfaktor und die Höhe der fortlaufenden Rentenzahlung hingewiesen. Diese und andere derzeit noch nicht absehbare Fragen, die wahrscheinlich streitig gestellt würden, könnten durch eine pauschalierte Zahlung mit entschädigungsrechtlichem Einschlag vermieden werden. Angesichts des hohen Alters der Betroffenen, von denen die meisten zwischen 80 und 100 Jahre alt sind, besteht die wirtschaftliche Bedeutung der Rente ohnehin gerade in der Nachzahlung, nicht in der laufenden und künftigen Leistung. Hinzu kommt, dass die - infolge einer Änderung des Zugangsfaktors zu erwartende - Absenkung der laufenden Rentenzahlungen wohl schwer zu vermitteln wäre und die befriedende Wirkung der beabsichtigten Regelung gefährden könnte.

Auch rechtssystematisch spricht viel für eine entschädigungsrechtliche Lösung. Materiell liegt die vom 5. und 13. Senat des Bundessozialgerichts in den Urteilen vom 02. und 03.2009 gefundene Lösung sehr nahe an dem entschädigungsrechtlichen Ansatz, den bereits der 4. Senat des Bundessozialgerichts in seinem Vorlagebeschluss vom 20.12.2007 (B 4 R 85/06 R) befürwortet hatte. Erste Ansätze in diese Richtung ergaben sich darüber hinaus schon vorher in der Entscheidung des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 22.10.2003 (L 8 RJ 90/01) mit der Überlegung, § 1227RVO lasse sich vom Sinn und Zweck der Vorschrift her auf Ghetto-Arbeitsverhältnisse nicht anwenden. Dieser Gedanke, dem der 13. Senat des Bundessozialgerichts in seinem Urteil vom 07.10.2004 (B 13 RJ 59/03 R, BSGE 93, 214) noch mit dem Vorwurf unzulässiger Rechtsfortbildung entgegengetreten war, findet sich in ähnlicher Form nunmehr als Begründungselement für die Entwicklung eines eigenständigen Entgeltbegriffs im Rahmen des ZRBG in den Entscheidungen vom 02. und 03.06.2009 wieder.

Durch eine Pauschalzahlung vermeidet es der Gesetzgeber im Übrigen, eine Sonderregelung zu § 44 Abs. 4 SGB X zu schaffen, die einen Anreiz dafür schaffen könnte, die für alle Bereiche des Sozialrechts geregelte maximale Dauer der rückwirkenden Leistungsbewilligung auch in anderen Fallkonstellationen aufzugeben und weitere Sonderregelungen zu schaffen.

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