Nr. 03/23

03/23

 

Stellungnahme des Bundes Deutscher Sozialrichter (BDS) zu den die Sozialgerichtsbarkeit betreffenden Regelungen im Regierungsentwurf eines Gesetzes zur Förderung des Einsatzes von Videokonferenztechnik in der Zivilgerichtsbarkeit und den Fachgerichtsbarkeiten (BR-Drs. 228/23)

Der BDS begrüßt, dass der Regierungsentwurf die eigenständige Regelung zur Videoverhandlung in § 110a SGG dem Grunde nach beibehält und dadurch den Besonderheiten des sozialgerichtlichen Verfahrens angemessen Rechnung trägt. Die hierfür sprechenden Gründe haben wir in unserer Stellungnahme zum Referentenentwurf (https://www.bunddeutschersozialrichter.drb.de/positionen/stellungnahmen/stellungnahme/news/2-22-1) dargelegt. Soweit wir darin zu einzelnen Regelungen Änderungsvorschläge vorgebracht haben, ist dies aufgegriffen worden. Der Regierungsentwurf trägt damit unseren Vorstellungen angemessen Rechnung.

Hierzu im Einzelnen:

Zu Artikel 1 (Änderungen des Gerichtsverfassungsgesetzes)

§ 185 Abs. 1a GVG-E, § 61 Abs. 1 Satz 2 SGG-E

Die gegenüber dem Referentenentwurf neu eingefügte Regelung des § 61 Abs. 1 Satz 2 SGG-E trägt den Besonderheiten des § 110a SGG für die Gestattung der Teilnahme eines Dolmetschers im Wege einer Videokonferenz Rechnung.

Das GVG findet im Bereich des sozialgerichtlichen Verfahrens Anwendung, wenn nicht grundsätzliche Unterschiede der Verfahrensarten dies ausschließen (§ 202 Satz 1 SGG). Bei auch in der Sozialgerichtsbarkeit regelmäßig zum Einsatz kommenden Dolmetschern ist es nachvollziehbar, aus Gründen der Kostenersparnis und Beschleunigung des Verfahrens die Möglichkeit der Teilnahme per Videokonferenz vorzusehen.

Anders als der Referentenentwurf ist die Zuständigkeit nunmehr dem Gericht und nicht nur dem Vorsitzenden zugewiesen. Dies erscheint im Hinblick auf die Regelung in § 110a Abs. 2 Satz 1 SGG-E konsequent, wenn auch nicht zwingend (s. unsere Anmerkungen zu dieser Vorschrift). Unseren in der Stellungnahme zum Referentenentwurf vorgebrachten Bedenken im Hinblick auf die Ladung zu sogenannten Erörterungsterminen beim Landessozialgericht, die regelmäßig auf den Berichterstatter übertragen sind (§ 155 Abs. 1 i.V.m. § 106 Abs. 3 Nr. 7 SGG), kann durch das Verständnis eines erweiterten Sachzusammenhangs der Übertragung nach § 155 Abs. 1, § 106 Abs. 3 Nr. 7 SGG begegnet werden.

§ 193 Abs. 1 GVG-E, § 61 Abs. 2 SGG-E

§ 61 Abs. 2 SGG-E nimmt die Sozialgerichte von der Möglichkeit der Beratungen und Abstimmungen der Richter durch Videokonferenz (§ 193 Abs. 1 GVG-E) nur noch im Fall der erstmaligen gemeinsamen Beratung und Abstimmung mit den ehrenamtlichen Richterinnen und Richtern bei einer Entscheidung aufgrund mündlicher Verhandlung aus. Unseren in der Stellungnahme zum Referentenentwurf vorgetragenen Bedenken ist damit Rechnung getragen worden.

Zu Artikel 4 (Änderung des Gesetzes, betreffend die Einführung der Zivilprozessordnung)

Die Regelungen zur Erprobung vollvirtueller Videoverhandlungen betreffen, wie der Bezug auf § 128 ZPO in § 16 Abs. 1 EGZPO-E zeigt und die Einzelbegründung ausdrücklich darlegt, ausschließlich die Zivilgerichtsbarkeit. Für die Sozialgerichtsbarkeit besteht auch aus unserer Sicht kein entsprechender Bedarf einer Erprobung.

Zu Artikel 6 (Änderungen der Zivilprozessordnung)

§ 117 Abs. 4 ZPO-E

Unsere in der Stellungnahme zum Referentenentwurf gemachte Anregung, in geeigneten Fällen auch eine Erklärung zu Protokoll des Vorsitzenden vorzusehen, ist nicht aufgegriffen worden.

Bereits in unserer Stellungnahme zum Referentenentwurf hatten wir vorgeschlagen, zusätzlich zur möglichen Aufnahme der Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse zu Protokoll der Geschäftsstelle auch eine solche zu Protokoll des Vorsitzenden in der mündlichen Verhandlung vorzusehen. Es kommt vor, dass Beteiligte die Übersendung des Formulars bis zum Zeitpunkt einer Verhandlung versäumen, die Voraussetzungen aber offensichtlich vorliegen. In der Sitzung könnte hier der Beschluss über die Prozesskostenhilfe an sich ergehen, wenn das Formular vorläge. In der Videoverhandlung kann das Formular aber nicht übergeben werden, was wegen § 117 Abs. 4 ZPO problematisch sein kann.

§ 118 Abs. 1 Satz 6 ZPO-E; § 73a Abs. 1, § 110a Abs. 6 SGG-E

Die Vorschrift des § 118 Abs. 1 Satz 6 ZPO-E mit Verweis auf § 128a SGG (sogenannter Erörterungstermin zu den Voraussetzungen der PKH per Videoverhandlung) im sozialgerichtlichen Verfahren nicht anzuwenden (so § 73a Abs. 1 SGG-E), ist sachgerecht. Hierauf haben wir bereits in unserer Stellungnahme zum Referentenentwurf hingewiesen. Die Verweisung der für Videoverhandlungen in der Sozialgerichtsbarkeit geltenden Regelung des § 110a SGG-E findet sich nunmehr in dessen Absatz 6.

§ 129a Abs. 2 ZPO-E; § 202 Satz 1 SGG-E

Gegen die Möglichkeit, eine „virtuelle“ Rechtsantragsstelle bei den Sozialgerichten einzurichten, bestehen keine durchgreifenden Bedenken. Hierauf haben wir bereits in unserer Stellungnahme zum Referentenentwurf hingewiesen. Da ein größerer Anteil der Beteiligten nicht durch einen Prozessbevollmächtigten vertreten ist, der Weg zu Sozialgerichten in Flächenstaaten jedoch gelegentlich weit ist, wird somit ein weiterer Zugang geschaffen, damit Beteiligte ihr Rechtsbegehren unmittelbar vorbringen können. Die nunmehr im Regierungsentwurf vorgesehene Möglichkeit, dass sich der Urkundsbeamte der Geschäftsstelle an einem anderen Ort als der Geschäftsstelle aufhält, trägt richtigerweise der auch in der Sozialgerichtsbarkeit verbreiteten Praxis, dass Urkundsbeamten teilweise im Homeoffice arbeiten, Rechnung.

§ 160a Abs. 1 ZPO-E, § 110a Abs. 4 SGG-E

Der gegenüber dem Referentenentwurf neu gefasste § 110a Abs. 4 Satz 1 und 2 SGG-E regelt eigenständig die Aufzeichnung der Bild- und Tonübertragung. Da nunmehr anders als im Referentenentwurf in § 160a Abs. 1 ZPO-E ein Antragsrecht der Beteiligten, bestimmte Aussagen vorläufig in Ton oder in Bild und Ton aufzuzeichnen, nicht mehr vorgesehen, die Entscheidung über die vorläufige Aufzeichnung vielmehr in das Ermessen des Gerichts gestellt wird, entfallen unsere in der Stellungnahme zum Referentenentwurf erhobenen Bedenken.

§ 160a Abs. 3 ZPO-E

Die verschiedenen Möglichkeiten der Aufbewahrung vorläufiger Aufzeichnungen sowie die Regelungen zur Löschung sind gegenüber dem Referentenentwurf erweitert und damit deutlich praxisnäher ausgestaltet worden. Unsere in der Stellungnahme zum Referentenentwurf erhobenen Bedenken entfallen daher.

§ 411 Abs. 3 ZPO-E

Wir begrüßen die (in Verbindung mit § 118 Abs. 1 Satz 1 SGG auch für das sozialgerichtliche Verfahren) vorgesehene Möglichkeit, die Erläuterung eines Gutachtens durch den Sachverständigen per Videokonferenz anzuordnen. Hierfür besteht gerade im sozialgerichtlichen Verfahren ein erheblicher Anwendungsbereich. Der gegenüber dem Referentenentwurf zusätzlich aufgenommene Ausschluss eines Einspruchsrechts des Sachverständigen gegen die Anordnung trägt dem Umstand Rechnung, dass das Gericht die Beweiserhebung leitet und ist daher sachgerecht.

Zu Artikel 7 (Änderung des Sozialgerichtsgesetzes)

§ 110 Abs. 3 SGG

Der Verzicht auf die Möglichkeit der Videokonferenz als Ablehnungsgrund für eine Terminsänderung im sozialgerichtlichen Verfahren ist, wie wir bereits in unserer Stellungnahme zum Referentenentwurf ausgeführt haben, nachvollziehbar. Nach der Gesamtregelung des § 110a SGG sollen Videokonferenzen nicht erzwungen werden, auch nicht durch Ablehnung einer Terminsänderung.

§ 110a SGG-E

Die Beibehaltung einer eigenständigen Regelung der Videoverhandlung in § 110a SGG für die Sozialgerichtsbarkeit trägt der besonderen Rolle und Bedeutung der mündlichen Verhandlung in Bezug auf die sozialen Rechte der Bürgerinnen und Bürger Rechnung. 

Wir begrüßen in diesem Zusammenhang, dass die Einzelbegründung zu § 110a Abs. 1 SGG-E klarstellt, dass auch diejenigen Vorschriften der ZPO, die auf § 128a ZPO Bezug nehmen, nicht zur Anwendung gelangen. Das gilt insbesondere für die Vorschrift des § 284 Abs. 2 und 3 ZPO-E über die Beweisaufnahme, nachdem § 110a Abs. 3 SGG-E dies abschließend regelt.

Absatz 2

Anders als in § 128a SGG entscheidet nach § 110a Abs. 1 Satz 1 SGG-E nicht der Vorsitzende, sondern das Gericht über die Gestattung der Videokonferenz. Dies wirkt sich für die Sozialgerichte nicht aus, da dort die Kammern nur mit einem Vorsitzenden und den ehrenamtlichen Richtern besetzt sind und letztere außerhalb der mündlichen Verhandlung nicht mitwirken (§ 12 Abs. 1 Satz 2 SGG). Über Anträge auf Teilnahme per Bild- und Tonübertragung erst innerhalb der mündlichen Verhandlung zu entscheiden, erscheint aber kaum praktikabel. Für die Landessozialgerichte und das Bundessozialgericht wird die Einbeziehung der weiteren betroffenen Richter mit deren Erfahrung und Erwartung zur Frage, ob eine Videoverhandlung gestattet werden kann, begründet (vgl. Einzelbegründung zu § 111 Abs. 3 SGG-E). Dies erscheint angesichts der Sitzungsleitung allein durch den Vorsitzenden (§ 112 Abs. 1 Satz 1 SGG) nicht zwingend, zumal die danach notwendige auch formale Befassung auch der Berichterstatter mit entsprechenden Anträgen zu einer zeitlich späteren Beschlussfassung führen kann, begegnet aber auch keinen durchgreifenden Bedenken.

Die Notwendigkeit der Begründung der Ablehnung einer Videokonferenz in § 110a Abs. 2 Satz 2 SGG-E entspricht bereits geltender Rechtslage (vgl. z. B. BSG vom 29. März 2022, B 8 SO 1/22 BH, Rn. 8 und die dort zitierte Entscheidung des BVerwG). Zwar ist dort nicht ausdrücklich eine Begründungspflicht bezeichnet. Allerdings lässt sich die angesprochene Ermessensentscheidung des Gerichts wohl nur überprüfen, wenn das Gericht sie begründet (wie im entschiedenen Fall ja auch geschehen). Nach allgemeinen Grundsätzen müssen Ermessensentscheidungen begründet werden, um sie auf Ermessensfehler überprüfen zu können. Denn ohne Begründung muss von einem Ermessensnichtgebrauch ausgegangen werden. Daher erscheint § 110a Abs. 2 Satz 2 SGG-E an sich entbehrlich, kann aber aus Gründen der Klarstellung beibehalten werden. Hierauf haben wir bereits in unserer Stellungnahme zum Referentenentwurf verwiesen.

Absatz 3

Gegenüber dem Referentenentwurf ist nunmehr die Gestattung der Videokonferenz für Zeugen oder Sachverständige nicht nur auf Antrag, sondern auch von Amts wegen möglich. Unseren in der Stellungnahme zum Referentenentwurf geäußerten Bedenken ist damit Rechnung getragen worden.

Absatz 5

Absatz 5 regelt, dass sämtliche Entscheidungen, die im Zusammenhang mit der Videoverhandlung ergehen, unanfechtbar sind. Die Formulierung ist gegenüber der Fassung im Referentenentwurf klarer und trägt damit unseren in der Stellungnahme zum Referentenentwurf geäußerten Bedenken vollumfänglich Rechnung.

Absatz 6

Absatz 6 erstreckt nunmehr sämtliche Absätze des § 110a SGG-E auf Termine nach §106 Abs. 3 Nr. 7 SGG-E (sog. Erörterungstermine). Den in unserer Stellungnahme zum Referentenentwurf vorgetragenen Bedenken ist damit vollumfänglich Rechnung getragen worden. 

§ 111 Abs. 1 Satz 2, Abs. 3 SGG-E

Die Gestattung des persönlichen Erscheinens im Rahmen einer Videoverhandlung wird von den Sozialgerichten bereits so praktiziert. Gegen die Ergänzung der Vorschrift aus Gründen der Klarstellung werden daher keine Bedenken erhoben, wie wir bereits in unserer Stellungnahme zum Referentenentwurf ausgeführt haben.

Bei dieser Gelegenheit § 111 Abs. 3 SGG zu ändern und die Kompetenz zur Anordnung der Entsendung eines ausreichend unterrichteten Beamten oder Angestellten dem Vorsitzenden zuzuweisen, wie dies bereits in der Literatur vertreten wird, ist sachgerecht.

§ 122 SGG-E

Die Ergänzung, wonach Regelungen des SGG den Vorschriften der ZPO über die Protokollierung, auf die verwiesen wird, vorgehen, erscheint nicht zwingend erforderlich. Sie dient lediglich der Klarstellung, wogegen aber keine Einwendungen erhoben werden.

 

Dr. Steffen Roller

Direktor des Sozialgerichts

Vorsitzender BDS