Nr. 1/22

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Stellungnahme des Bundes Deutscher Sozialrichter (BDS) zu Überlegungen einer Änderung des § 110a SGG (Videokonferenz)

Dem Vernehmen nach bereitet das BMJ einen Gesetzentwurf vor, der den Zivilgerichten in § 128a ZPO die Verpflichtung auferlegt, auf übereinstimmenden Antrag der Parteien eine mündliche Verhandlung als Videokonferenz durchzuführen. Die Einzelheiten (Sollvorschrift? Inhaltliche Vorgaben für die richterliche Entscheidung?) sind naturgemäß noch nicht bekannt. Es ist zu erwarten, dass eine solche Regelung auf § 110a SGG übertragen und diese Vorschrift damit ebenfalls neu gefasst werden soll.

Abgesehen von allgemeinen Bedenken gegen eine Einschränkung der richterlichen Entscheidung über die Gestattung, sich während einer gerichtlichen Verhandlung an einem anderen Ort aufzuhalten und von dort aus Verfahrenshandlungen vorzunehmen (vgl. nur Roller, NZS 2022, 481, 485), bestehen gegen eine solche Änderung im Bereich des § 110a SGG ganz besondere Vorbehalte:

  • Das gerichtliche Verfahrensrecht der Sozialgerichtsbarkeit ist bewusst einfach ausgestaltet, um den typischerweise dort auftretenden Klägern den Rechtsweg zu erleichtern. Dementsprechend besteht für die Sozialgerichte ein erweiterter Gestaltungsspielraum im Verfahrensrecht. So wie die Sozialgerichte zwar an die mit der Klage erhobenen Ansprüche, nicht aber an die Fassung der Anträge gebunden sind (§ 123 SGG), sind auch im Übrigen formale Vorgaben in weit geringerem Umfang vorhanden als in anderen Prozessordnungen. Einengende Vorgaben für die richterliche Entscheidung, ob per Videokonferenz verhandelt wird, würden diesem systematischen Ansatz widersprechen.

  • Die Sozialgerichtsbarkeit ist - anders als die Zivilgerichtsbarkeit - vom Amtsermittlungsgrundsatz gekennzeichnet (§ 103 SGG). Es obliegt also dem Gericht, die seiner Entscheidung zu Grunde zu legenden Tatsachen zu ermitteln. Daher sollte es auch - wie im bisher geltenden Recht - dem Gericht vorbehalten bleiben, über die hierzu notwendigen Schritte zu entscheiden, also auch über die Frage, ob ein Termin in Präsenz oder als Videokonferenz durchgeführt wird.

  • In vielen Fällen ist es im Sinne der Entscheidungsfindung notwendig, dass sich das Gericht einen direkten Eindruck von Persönlichkeit und Glaubwürdigkeit einzelner Beteiligter oder Zeugen verschafft. Die persönliche Befragung eines Klägers, von dem etwa die Rückzahlung einer Sozialleistung gefordert wird, wird im Gerichtssaal häufig genauere Erkenntnisse bringen als wenn sich der Kläger, ggfs. mit einer unbekannten Zahl weiterer Personen, in der Kanzlei seines Anwalts befindet. Hinzu kommt, dass die mündliche Verhandlung in Anwesenheit der Beteiligten oftmals der beste Weg ist, komplexe Sachverhalte aufzuklären.

  • Zu berücksichtigen ist ferner, dass die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit eine besondere Fürsorgepflicht gegenüber Menschen trifft, die Sozialleistungen beziehen oder beantragen (kodifiziert etwa in § 106 Abs. 1, § 112 Abs. 2 Satz 2 SGG). Auch dieser Pflicht kann das Gericht - je nach Fallkonstellation - in einem Präsenztermin effektiver genügen als in einer Videokonferenz; etwa dann, wenn das Gericht es für geboten hält, einen von einem Rechtsanwalt vertretenen Kläger auch persönlich in das Rechtsgespräch einzubeziehen.

Ob ein Fall vorliegt, der die Durchführung eines Termins in Präsenz erfordert, oder ob Gesichtspunkte überwiegen, die für eine Videokonferenz sprechen, entscheiden nach geltendem Recht nicht die Beteiligten, sondern das zur Sachaufklärung verpflichtete Gericht, das für Ermittlungen und Entscheidung die Verantwortung trägt. Dabei sollte es bleiben. Der BDS hält § 110a SGG in der geltenden Fassung weiterhin für sachgerecht; er hat sich insbesondere auch unter den besonderen Umständen der Corona-Pandemie bewährt. Eine Änderung in der o.g. Weise würde die Arbeit der Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit unnötig erschweren und - insbesondere bei Eröffnung der Beschwerde gegen Entscheidungen nach § 110a Abs. 1 oder Abs. 2 SGG oder im Fall einer Zurückverweisung durch die nächsthöhere Instanz wegen eines Verfahrensfehlers - in vielen Fällen verzögern.

Das Argument eines anzustrebenden „Gleichlaufs“ des Inhalts der Regelungen zu Videokonferenzen im SGG mit derjenigen der ZPO halten wir nicht für überzeugend. Der Gesetzgeber hat sich mit der Einfügung des § 110a SGG dagegen entschieden, Videokonferenzen über die bloße Verweisung des § 202 Satz 1 SGG auf § 128a ZPO zu regeln, und stattdessen eine eigenständige Regelung geschaffen. Er hat damit grundsätzliche Unterschiede der Verfahrensarten in diesem Regelungsbereich anerkannt. Diese würden sich nun deutlich auswirken, wenn in der ZPO für die richterliche Entscheidung zu Videokonferenzen engere inhaltliche Vorgaben gemacht würden. Sie gebieten es auch, in diesem Fall die Fragestellung in ZPO und SGG unterschiedlich zu regeln.

 

Dr. Steffen Roller                                                                  Christoph Bielitz
Direktor des Sozialgerichts                                                Richter am Sozialgericht a.w.a.Ri.
Vorsitzender des BDS                                                         Vorstandsreferent des BDS

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